Die Kunst des Loslassens

von Karl Brodschneider

Gedanken eines Bauern, warum das Loslassen so wichtig ist und welche neuen Möglichkeiten sich im Leben dadurch eröffnen können.

 

Man sagt mir, ich soll loslassen. Wenn du übergeben willst, musst du loslassen. Ich soll loslassen, um den Jungen Platz zu machen für deren Ideen und Vorhaben, um Verantwortung abgeben zu können und Zeit zu haben für Dinge, die ich schon immer tun wollte. Loslassen, um frei sein zu können, frei von Sorgen um die Betriebsführung.

Was ist, wenn?

Edi Ulreich

Eduard Ulreich hat diesen Text verfasst. Er ist Sozialpädagoge, Lebensberater und Begleiter von bäuerlichen Familien in schwierigen Situationen.

Aber was ist, wenn mich das Denken über wirtschaftlichen Erfolg, die Sorge um das Vieh und um das rechtzeitige Anbauen, das gute Gedeihen der Frucht nicht loslässt? Wenn ich mir immer noch Gedanken darüber mache, ob denn die Betriebsfahrzeuge funktionieren und die Geräte ausreichend gewartet sind? Was ist, wenn ich eigentlich noch immer auf die Berater, Kontrolleure, Einkäufer und Geschäftspartner warte, um mit ihnen zu reden. Was ist, wenn ich in Sorge bin, ob die Versicherungen wohl bezahlt und die Ansuchen für Förderungen rechtzeitig gestellt sind? Was tun, wenn ich nicht mehr bestimmen kann?

Ich weiß, wenn mich das alles immer wieder beschäftigt, dann habe ich ein Problem oder besser gesagt eine große Aufgabe vor mir. Ich muss loslassen lernen! Loslassen von Aufgaben, Verantwortung und Gewohnheiten, Loslassen von dem Großteil dessen, was bisher meinem Leben Sinn und Ordnung gegeben hat.

Freunde sagen mir: „Lass los, um frei zu sein für Neues!“ Aber bin ich bereit dazu? Will ich das überhaupt und kann ich es überhaupt? Was kommt dann, nach dem Loslassen? Wer und was bin ich dann?

Punkte, die helfen

Im Grunde verlangt ein erfolgreiches Loslassen nicht viel. Wenn ich mich auf einige Punkte konzentriere und dabei konsequent bin, gelingt es mir schon besser, die notwendigen Veränderungen zu erreichen. 

1.     Ich kann loslassen, wenn ich ehrlich zu mir bin. Wenn ich sagen kann: ja so ist es. Das ist nun meine Aufgabe. Ich weiß zwar nicht, was da genau auf mich zukommt. Ich bin in Sorge und habe ein wenig Angst davor, aber ich möchte auch mutig sein und mich der Herausforderung des Lebens stellen.

2.     Ich kann loslassen, wenn ich Vertrauen habe. Ich kann meinem Nachfolger, meiner Familie und meinen Freunden vertrauen. Ein jeder, eine jede für sich ist anders als ich. Sie werden es nie so machen können, wie ich es gemacht habe. Sie machen es anders und es wird auch so gut sein.

3.     Ich kann loslassen, wenn ich lerne zu verzeihen. Vieles ist nicht so gelaufen, wie ich es gerne gehabt hätte. Manches hat mich gekränkt und verletzt. Ich werde das alles nicht vergessen können, aber ich versuche es zu verstehen und kann verzeihen. Würde ich an diesen Erinnerungen hängen bleiben, kann ich nicht loslassen.

4.     Ich kann loslassen, wenn ich positiv denke. Ich weiß, dass in meinem Denken eine gewaltige Kraft liegt. So wie ich denke, so sehe ich die Welt und so gestalte ich sie wesentlich mit. Nicht was alles unmöglich ist, was alles verloren erscheint, soll in meinem Kopf Platz haben, sondern all das, was möglich wird, was ich noch tun will, was mir Freude macht und was mein Leben lebenswert gelingen lässt.

5.     Ich kann loslassen, wenn ich das Gespräch suche. Ich kann zum Beispiel mit meinem Übernehmer vereinbaren, was ich ihm von meinem Wissen weitergeben soll und in welchen Bereichen er selbst seine Erfahrungen machen möchte. Es ist wichtig, das Gespräch zu suchen und es ist wichtig, schweigen zu lernen.

Ich kann stolz darauf sein, was ich bisher mit meiner Familie geleistet habe. Wenn ich im Nachdenken über mein bisheriges Leben vielleicht erkenne, dass ich so Manches und so manche Beziehung vernachlässigt habe, dann weiß ich, jetzt ist die Zeit gekommen, mich wieder darum zu kümmern. Nicht so, wie es damals notwendig gewesen wäre, sondern so wie es heute möglich ist.

Meine Zeit war und die Zeit der Jungen ist die Gegenwart und die Zukunft. Loslassen heißt Abschied nehmen. Da ist es völlig in Ordnung, wenn ich wehmütig und traurig bin. Aber meine Lebensaufgabe ist ja noch nicht zu Ende. Ich habe noch so Vieles vor und kann so Vieles tun, wenn ich loslasse.

 

Beitragsfotos: AdobeStock, privat

 

 

Zum Thema passend

Einen Kommentar abgeben