Was ist bloß los in Israel? Was hat das Land so verändert? 

von NEUES LAND

Seit Wochen kommt der kleine und zugleich so mächtige „Staat der Juden“ – so sein festgeschriebenes Selbstverständnis – nicht zur Ruhe. Was steckt dahinter und vor allem: Woher kommt die jüngste Radikalisierung? Hans Putzer analysiert im Rahmen der Serie „Zeitdiagnosen“.

 

Vordergründig scheint alles ganz einfach zu sein: Die erst seit kurzem im Amt befindliche Regierung unter Benjamin Netanjahu – in den europäischen Medien ständig nur als „rechts-religiös“ denunziert – dreht an einer der heikelsten gesellschaftspolitischen Schrauben, am Verhältnis der Politik zur Justiz. Auf den Punkt gebracht: Das Parlament soll künftig die Möglichkeit haben, Regierungsentscheidungen, die bisher vom Höchstgericht außer Kraft gesetzt werden konnten, auch über die Köpfe der Höchstrichter hinweg zu beschließen. Und dagegen protestieren inzwischen Zigtausende beinahe täglich zwischen Tel Aviv und Jerusalem. Sowohl für die politische Opposition im Lande als auch für den europäischen Meinungs-Mainstream, aber auch für die USA ist diese vom israelitischen Justizminister verharmlosend bezeichnete „Korrektur des Justizsystems“ nicht weniger als der Anfang vom Ende der demokratischen Verfasstheit eines Staates, der – gerade erst 75 Jahre alt geworden – zum einen auf eine beispiellose Erfolgsgeschichte verweisen kann, zum anderen aber seit dem ersten Tag seines Bestehens ununterbrochen von seiner Auslöschung durch seine Nachbarn, wenn auch zeitlich und militärisch in unterschiedlichem Ausmaß bedroht ist.

Ständige Bedrohungen

Mit Jordanien und Ägypten konnten zwar einigermaßen stabile Beziehungen aufgebaut werden, die instabilen inneren Verhältnisse in Syrien, dem Libanon und dem Irak sind dagegen eine ständige Bedrohung für die Sicherheit Israels. Ganz zu schweigen vom Iran, dessen Ziel, Palästina von den Juden zu „befreien“, faktisch Staatsräson ist: „From the river to the sea, Palestine shoud be free“, so die im weltweit verständlichen Englisch formulierte politische Kampfansage: Vom Fluss, gemeint ist der Jordan, bis zum Mittelmeer, gelte es, das Land Palästina wieder zu befreien. Der Iran versteht sich seit der islamischen Revolution von 1979 als Schutzmacht der arabischen Bevölkerung, die innerhalb Israels oder in den besetzten Gebieten lebt, aber auch jener, die oder deren Vorfahren von hier vertrieben worden sind. Sie alle werden meist mit dem historisch durchaus nicht unproblematischen Sammelbegriff „Palästinenser“ bezeichnet. Sie leben heute zum einen als israelische Staatsbürger vor allem im Norden des Landes und zum anderen in den seit dem „Sieben-Tage-Krieg“ (1967) besetzten und inzwischen unter autonomer oder teilautonomer palästinensischer Verwaltung stehenden Gebieten „Westjordanland“ (Westbank) und „Gazastreifen“.

Und als ob das alles nicht schon schwierig genug wäre, bestehen zudem zwischen den politischen Repräsentanten dieser beiden Landesteile diametral unterschiedliche Zielvorstellungen, wenn es um die sogenannte Zweistaatenlösung geht: Die Fatah im Westjordanland hat, zumindest auf dem Papier im Rahmen des „Osloer Abkommens“ (1993) das Existenzrecht Israels anerkannt, während die Hamas im Gazastreifen wie auch die aus dem Libanon operierende Hisbollah – beide mit massiver Unterstützung aus dem Iran und in Europa und in den USA als Terrororganisationen eingestuft – dessen Vernichtung als Ziel ausgerufen hat. 

Andererseits: Die Politik Israels in Gaza und in der Westbank ist international durchaus und auch zu Recht umstritten. Während der Gazastreifen – mittlerweile eine der weltweit am dichtesten besiedelten Regionen überhaupt – wie ein großes „Freiluftgefängnis“ abgeschottet wird, schaffen die sogenannten „Siedler“ mit ihren Dorfgründungen in der Westbank für ständige Auseinandersetzungen und Besitzverschiebungen zwischen den Palästinensern und den Juden.

Explosives Gemisch

Das alles muss mitgedacht werden, wenn wir von den Demonstrierenden auf Israels Straßen hören. Denn zeitgleich nehmen auch die Auseinandersetzungen zwischen den Palästinensern und den Juden in der Westbank ebenso wie auf israelischem Staatsgebiet zu. Es vergeht kaum eine Woche, wo es nicht Getötete auf beiden Seiten gibt. Zugleich, und das wird in Europa medial weitgehend und wohl auch interessengesteuert ignoriert, spitzen sich auch die innerpalästinensischen Auseinandersetzungen in Gaza zu, wo immer mehr Menschen von der fundamentalistischen Hamas genug haben. Und das alles vor dem Hintergrund einer knapp bevorstehenden atomaren Aufrüstung des Irans.

Dass dies zu einer politischen Radikalisierung in der trotz allem nach westlichen Standards einzigen Demokratie im „Nahen Osten“ geführt hat, ist zwar höchst bedauerlich und gefährlich, einseitige Verurteilungen Israels werden hier aber nichts zur Lösung dieser Konflikte beitragen. Was sind die tieferen Ursachen dieser Radikalisierung?

Israel Polizei

Die Sicherheitslage in Israel ist immer angespannt. Die Angst vor Terror und Angriffen außen ist ständig präsent.

Erstens: Latente Angst. Israel lebt unter dem „Iron Dome“, einer „Schutzkuppel“ zur Abwehr von Raketen und Artilleriegeschützen. Dieses System ist ohne Zweifel, ähnlich dem israelischen Geheimdienst „Mossad“, von hoher Effizienz und Effektivität. Das Land ist so klein und exponiert gelegen, dass faktisch jeder Winkel jederzeit unter Beschuss genommen werden kann und letztlich auch wird. Militärexperten, Politologen und Zeithistoriker sprechen zurecht davon, dass jeder Sieg, den Israel erringt, weitere Angriffe zur Folge haben wird, doch eine einzige Niederlage reicht, um das Ende des Staates zu besiegeln. Radikale wissen diese Stimmung für sich zu nutzen.

Zweitens: „Unser“ Land. Für Juden wie auch für Araber ist dieser schmale Landstrich an der östlichen Mittelmehrküste von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Als Land „ihrer Väter“ ist es emotional hoch aufgeladen, hierher hat ja schon Moses die Juden aus der ägyptischen Gefangenschaft geführt, doch – so die Gegenerzählung – trafen diese auf die Vorfahren der Palästinenser. Dass von 1516 bis 1918 das Land unter osmanischer und ab 1920 bis zur Staatsgründung unter britischer Herrschaft gestanden ist, ändert nichts an den jeweiligen verabsolutierenden Ansprüchen.

Juden an der Klagemauer in Jerusalem.

Drittens: Dauerhaftes Patt. Wie schon angesprochen, stehen sich Juden und Araber mit ihren jeweiligen Verbündeten seit der Staatsgründung 1948 mehr oder weniger unversöhnlich gegenüber. Auch Jordanien hat mit der Annexion der arabischen Teile Palästinas 1950 nur wenig zur Befriedung der Region beitragen können. Alle Versuche zwischen den beiden Volksgruppen einen Ausgleich herzustellen, sind letztlich gescheitert. Zugleich aber wächst die arabische Bevölkerung innerhalb der Staatsgebietes Israels weitaus stärker als die jüdische. Die radikal-nationalen Parteien können erfolgreich damit argumentieren, dass die Juden eines Tages eine Minderheit im eigenen Land sein werden. Und man kann so auch nachvollziehen, warum die streng orthodoxen Juden angesichts ihrer großen Kinderzahl eine so privilegierte Rolle in der Politik der aktuellen Regierung haben.

Viertens: Neue Allianzen. Nahostpolitik war und ist immer auch Geopolitik. Gerät diese in Bewegung, ist auch die israelische Politik davon betroffen. Konkret: China übernimmt zunehmend die Rolle der USA als wichtigster globaler Player. (Übrigens mit Russland im Schlepptau, was hier auch nicht übersehen werden darf!) Die Chinesen treten als Wirtschaftsentwickler weltweit ebenso aktiv auf, wie als Vermittler zwischen rivalisierenden Staaten. Der aus ihrer Sicht wahrscheinlich größte Erfolg war die Initiative zur Aussöhnung der beiden Erzrivalen der islamischen Welt, zwischen dem Iran und Saudi-Arabien. Für Israel ist diese Entwicklung ein absoluter Worstcase, war man doch auf einem guten Weg, mit den Saudis und ihren Nachbarn auf der arabischen Halbinsel geordnete Verhältnisse herzustellen.

Fünftens: Kulturelle Identität. Es muss auch hier gesagt werden: Die Juden sind das einzige Volk auf Erden, das in seinem Selbstverständnis seit der Antike an seinen wesentlichen Identitätsmarkern festgehalten hat. Auch die Diaspora nach der Vertreibung durch die Römer im ersten nachchristlichen Jahrhundert hat daran nichts geändert. Die aktuellen Diskussionen um die Justizreform werden nicht zuletzt auch deshalb so unerbittlich geführt, da sie entlang der Bruchlinien zwischen einem säkularem und einem religiösem Staats- und Gesellschaftsverständnis geführt werden.

Sechstens: Immerwährende Erinnerung. Beide Volksgruppen legitimieren ihr gegenwärtiges Handeln, aber auch ihre künftigen Perspektiven mit Verweisen an vergangenes Leid. Was den Juden der „Holocaust“, ist den Palästinenser die „Nakba“, die Flucht und Vertreibung der arabischen Bevölkerung im Zuge der Neugründung Israels, die als ethnische Säuberung weitererzählt wird. So wird hier wie dort der Schrecken der Geschichte zur Rechtfertigung neuen Unrechts.

 

Fotos: Brodschneider

 

 

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