Der Arzt Georg Ruppe über das Ergebnis der Hochaltrigen-Studie, über die Lebenszufriedenheit der Generation 80+ und über Faktoren, wie man sehr alt werden kann.
NEUES LAND: In der Steiermark sind laut aktueller Statistik derzeit knapp 82.000 Personen älter als 80 Jahre. Das sind rund 6,5 Prozent der Gesamtbevölkerung. Wie wird sich der Anteil dieser Altersgruppe in den nächsten Jahren und Jahrzehnten entwickeln?
Georg Ruppe: Das Wachstum ist relativ beeindruckend. Man nimmt an, dass wir bis zum Jahr 2040 eine knappe Verdoppelung dieses Anteils haben und in 30 Jahren eine Verdreifachung.
NL: An der Hochaltrigenstudie der Österreichischen Plattform für Interdisziplinäre Altersfragen hat sich auch die Steiermark wieder beteiligt. Wie wichtig sind solche Studien für die Politik?
Ruppe: Wir denken, dass die Studie, die in dieser Form und diesem Umfang einzigartig in Österreich ist, eine relevante Entscheidungsgrundlage bietet für verschiedene notwendige Maßnahmen seitens der Politik. Denn es braucht vor allem ein umfassendes Bild dieser Lebensphase. Dabei geht es nicht nur um die Beleuchtung einzelner gesundheitlicher, sozialer und finanzieller Aspekte, sondern um das Zusammenspiel der verschiedenen Lebensbereiche, die gerade im hohen Alter sehr relevant sind. Es gibt eine große Pluralität an Einflussfaktoren, die auf die subjektive Gesundheit im hohen Lebensalter einwirken. Daher ist es relevant, diese Einflussfaktoren aufzuzeigen, weil man durch das Kennen dieser Faktoren die Möglichkeit hat, an den verschiedenen Schrauben zu drehen.
Tabuthema Harninkontinenz
NL: Was sind für Sie die zentralen Ergebnisse der Studie?
Ruppe: Einleitend sei gesagt, dass das hohe Lebensalter extrem heterogen ist. Die „Alten“ oder eine einheitliche Gruppe der Hochaltrigen gibt es nicht. Nun zu Ihrer Frage! Das ist zum einen das Lenken der Aufmerksamkeit auf die sozioökonomische Situation und ihren Einfluss auf die gesundheitlichen Funktionalitäten und all das, was wir als gutes Altern bezeichnen würden. Wir sehen, dass eine schlechte sozioökonomische Situation mit einer hohen Rate an Morbidität, mit einer höheren Rate an kognitiver Verletzlichkeit oder einem höheren Risiko, an Demenz zu erkranken, einher geht.
Was mir in dieser Studie auch wichtig ist, sind die Daten zur Harninkontinenz, was unseres Erachtens zu wenig thematisiert wird. Das ist nach wie vor ein Tabuthema unter den Betroffenen. Wir wissen, dass es eine sehr problematische Negativspirale im Alter auslösen kann und dass es recht gut behandelbar wäre, wenn man ärztliche Hilfe aufsuchen würde. Zum anderen sehen wir im Längsschnitt, dass – was die Geschlechter betrifft – Frauen tendenziell ein hohes Lebensalter erreichen, aber meistens in einem schlechteren funktionalen gesundheitlichen Zustand sind. Sie sind häufiger multimorbide und öfters von kognitiven Einschränkungen betroffen, brauchen häufiger Pflegebedarf und sind mehr von Harninkontinenz betroffen. Dabei spielen auch die sozioökonomischen Hintergründe eine Rolle.
NL: Was sind die Hauptkrankheiten der hochaltrigen Menschen?
Ruppe: Das sind vor allem Erkrankungen rund um das Herzkreislauf-System. Bluthochdruck ist die häufigste Diagnose im hohen Lebensalter. Dazu kommen die Herzerkrankungen in unterschiedlichen Formen. Dann folgt schon die Harninkontinenz.
NL: Wann werden die Grundlagen für ein hohes Alter gelegt?
Ruppe: Es gibt mit Sicherheit genetische Voraussetzungen, welche die Gesundheit und das Erreichen eines hohen Lebensalters betreffen. Ganz wichtig ist aber auch die sozioökonomische Situation. Das ist die Möglichkeit, Bildung zu bekommen und damit letztlich auch seinen Lebensstil und sein Einkommen und die Lebensverhältnisse zu prägen. Das sind Faktoren, die einen großen Einfluss haben.
Wir tendieren dazu, dass wir dort intervenieren, wo wir das Problem sehen. Aber wir müssen uns bewusst sein, dass das gerade im hohen und höchsten Lebensalter tendenziell zu spät kommt. Präventive Vorsorgemaßnahmen und den gesunden Lebensstil beeinflussende Maßnahmen haben mit 80 aufwärts deutlich weniger Effekt, als wenn ich damit schon in früheren Lebensphasen beginnen kann. Wir sehen, dass die sozioökonomische Ungleichheit über den Lebenslauf hinweg sozusagen kumulierte Benachteiligungen bringt, die dann eine schlechtere gesundheitliche Situation bedingen. Umgekehrt sehen wir, dass jemand, der trotz sozioökonomisch schlechterer Situation im hohen Lebensalter in guter Gesundheit ist, für die nächsten Jahre keine schlechtere Prognose hat als jemand, der sozioökonomisch besser gestellt ist.
Zufriedenheit mit dem Leben
NL: Wie schaut es bei älteren und alten Menschen mit der Lebenszufriedenheit aus?
Ruppe: In der Studie haben wir erhoben, dass über 80 Prozent die Frage nach der Zufriedenheit mit dem Leben mit sehr zufrieden oder eher zufrieden angeben. Das zeigt, dass Menschen sehr gut in der Lage sind, Einschränkungen sowie Verluste in der gesundheitlichen und sozialen Ebene zu kompensieren und einen Weg finden, um ein zufriedenes Leben zu führen.
Das gilt auch für das Thema der Einsamkeit, das vor allem in der Corona-Zeit politisch sehr stark gepusht wurde. Dieses Thema ist zwar vorhanden, aber viel geringer, als man es annehmen würde.
NL: Sind Altbauern und Altbäuerinnen zu beneiden, wenn sie in Familienverbänden leben können?
Ruppe: In gewisser Weise schon, weil wir in einer Zeit leben, wo im städtischen Raum das soziale Gefüge schwächer wird. Wenn ich einen familiären Kontext habe, dann gibt das gerade im hohen Lebensalter, wo eine emotionale oder kognitive Verletzlichkeit da ist und die Gebrechlichkeit einsetzt, eine Sicherheit. Wenn Sie mich persönlich danach fragen, so ist das etwas, was ich für mich als etwas Schönes empfinden würde.
Zur Person
Der gebürtige Grazer Georg Ruppe ist seit 2009 Geschäftsführer der Österreichischen Plattform für Interdisziplinäre Alternsfragen (ÖPIA). Er ist auch Mitarbeiter der Europäischen Geriatrie und Gerontologie Gesellschaft. Ruppe leitete die Österreichische Interdisziplinäre Hochaltrigen-Studie.
Foto: Brodschneider