Von 26. Juli bis 11. August finden in Paris – so weit, so bekannt – die 33. Olympischen Sommerspiele der Neuzeit statt. Und nein, hier soll es nicht um Parallelen zwischen Krieg und Sport gehen, auch nicht um die ohnehin evidenten militärischen Impulse, aus denen sich der moderne Sport, wie auch seine antiken Vorbilder entwickelt hat. Auch wenn er sich gerne als unpolitisch gibt, ist der Sport eine der stärksten politischen Wirkmächte in unserer Gesellschaft. Seine Rolle im öffentlichen Leben unterscheidet sich somit diametral von der der Kultur. Nicht nur linke Kulturschaffende tragen ihr politisches Sendungsbewusstsein meist wie die Monstranz zu Fronleichnam vor sich her, doch ihre Relevanz bleibt im Gegensatz zum ach so unpolitischen Sport meist äußerst überschaubar.
Die große öffentliche Aufmerksamkeit um die antisemitische Agitation bei der „documenta fifteen“ 2022 in Kassel, einem der wichtigsten Foren für zeitgenössische Kunst, ist hier eher eine Ausnahme gewesen, während ein solcher Erregungspegel bei internationalen Sportveranstaltungen der Regelfall ist. Jüngste Beispiele dafür: Bei der spanischen Siegesfeier nach dem Gewinn der Fußball-Europameisterschaft – ausgerechnet gegen England – wurde „Gibraltar“ – völkerrechtlich völlig falsch – „ist spanisch“ gesungen. Die Proteste aus London und von den Bewohnern der kleinen Halbinsel an der spanischen Südspitze kamen unverzüglich. Und als die UEFA den türkischen Spieler Demiral nach dem Jubel mit dem als rechtsextrem eingestuften „Wolfsgruß“ für zwei Spiele sperrte, demonstrierte beim nächsten Spiel der überwiegende Teil der türkischen Fans mit diesem umstrittenen Zeichen.
Faszination Sport
Dieser Zwischentitel mag nach dem zuletzt Gesagten etwas eigenartig – mehr noch, abstoßend – klingen, doch auch solche Ereignisse helfen uns, Sport als politisches Phänomen besser zu verstehen. Kaum in einem anderen Lebensbereich werden so grundlegend existenzielle Themen wie Stärke, Identifikation, Emotion, Gerechtigkeit und öffentliche Wirksamkeit erfahrbar, allesamt Erfahrungsräume, deren Beherrschung auch für die Politik entscheidende Bedeutung hat. Weil nun eben Olympische Sommerspiele die größte und global auch am stärksten wahrgenommene Sportveranstaltung sind, ist hier auch die politische Relevanz kaum zu überbieten.
Nicht das oft und dazu meist falsch zitierte „Dabei sein ist alles“ steht am Beginn der olympischen Idee Ende des 19. Jahrhunderts. Der Leitspruch war vielmehr das lateinische „Citius, altius, fortius“ (schneller, höher, stärker). Mögen auch aktuell manche Jugendsportfunktionäre insbesondere in Deutschland den Wettbewerbsgedanken gegenüber dem Gemeinschaftserlebnis zurückzudrängen versuchen, gerade im Sport gilt der Zweite nicht selten bereits als der erste Verlierer.
Sportliche Siege werden in der Öffentlichkeit gerne als „beeindruckende Machtdemonstrationen“ bejubelt, die Analogie zur Politik ist offensichtlich. Wenn Politiker erfolgreiche Sportler nach der Rückkehr von Wettkämpfen öffentlichkeitswirksam ehren und bejubeln lassen, dann fällt ein nicht geringer Teil dieses Glanzes auch auf sie ab. Wenn die heimische Mannschaft gewinnt, gewinnen wir mit, wird sie vom Schiedsrichter vermeintlich (?) betrogen, fühlen auch wir uns beleidigt. Das Gemeinschaftsgefühl in Fankurven unterscheidet sich nur marginal von der Stimmung bei Wahlkampfauftritten. Wie muss sich wohl Werner Faymann am 1. Mai 2016 – acht Tage vor seinem Rücktritt als Bundeskanzler und SPÖ-Vorsitzender – gefühlt haben, als er zugleich inszenierten Jubel und gnadenlose Pfiffe über sich ergehen lassen musste. Fußballer wie Marc Cucurella bei der gerade erst zu Ende gegangenen Fußball-EM können damit sichtlich besser umgehen.
Von „versteckten Fouls“ sprechen Sportjournalisten zumindest ebenso oft wie deren Kollegen von der Politik. Und wer einen blendenden Sieg feiert, sollte nie die Doppeldeutung dieses Wortes vergessen. Franz Beckenbauer war nach dem Fußball-WM-Titel 1990 und der darauffolgenden Wiedervereinigung Deutschlands überzeugt – verblendet – davon, dass seine Nationalmannschaft nun auf Jahre hinaus unschlagbar sein werde; ein folgenschwerer Irrtum wie auch Wolfgang Schüssels Gewissheit, dass Alfred Gusenbauer gegen ihn keine Wahl gewinnen könne.
Doch zumindest auf einen wesentlichen Unterschied zwischen Politik und Sport sei hier noch verwiesen. Während die Übertragungsrechte für Sportveranstaltungen mittlerweile kaum mehr nachvollziehbare Unsummen erreicht haben, gehören Diskussionen mit Politikerinnen und Politikern in den Medien zu den billigsten Programmen. Ein Schelm, wer bei „billig“ an mehr als nur an die Kosten denkt!
Olympische Politik
„Die Spiele als Bühne für Sport und Politik“ nennt der allseits bekannte und präsente Politikwissenschaftler und Sportfan Peter Filzmaier sein jüngst bei Brandstätter erschienenes Buch „Olympia“ im Untertitel, in dem er die Geschichte der Olympischen Spiele als eine Art Parallellauf von politischen und sportlichen Interessen samt ihrer Abwege Nationalismus, Rassismus, Doping, Korruption sowie Medienspektakel und Kommerzialisierung erzählt. (Wer in diese Materie tiefer eintauchen will, sei zudem auf Klaus Zeyringer: „Olympische Spiele. Eine Kulturgeschichte“ in zwei Bänden verwiesen.)
In dieser vorolympischen „Zeitdiagnose“ sollen nun vier exemplarische Auffälligkeiten die Vielfalt sportlich-politischer Verstrickungen zeigen:
Erstens: Beginnen wir mit dem Selbstverständlichen! Olympische Spiele bilden immer und wohl zuallererst den jeweiligen Geist ihrer Zeit ab. Wenn die Pariser Bürgermeisterin kurz vor Beginn der Spiele medienwirksam in der Seine geschwommen ist, wollte sie damit wohl nicht nur beweisen, dass die hier ausgetragenen Langstreckenschwimmwettbewerbe keine Gefahr für die Gesundheit der Teilnehmenden darstellen, sondern dass vielmehr die französische Metropole auch in Sachen Ökologie und Nachhaltigkeit zu Höchstleistungen in der Lage ist.
Noch eine weitere Nachricht aus Paris zur verwirklichten Geschlechtergerechtigkeit ist hier zu erwähnen. Erstmals werden gleich viele Sportlerinnen und Sportler teilnehmen. Bei Pierre de Coubertin, dem Begründer der neuzeitlichen Olympischen Spiele, hieß es im ausgehenden 19. Jahrhundert noch: „Ich persönlich billige die Teilnahme von Frauen an öffentlichen Wettkämpfen nicht […]. Bei den olympischen Spielen sollte ihre Rolle vornehmlich – wie bei den alten Turnieren – die sein, die Sieger zu bekränzen.“
Zweitens: Städte, in denen Olympische Spiele ausgetragen werden, sind immer auch eine Bühne, um die außerordentlichen Fähigkeiten einer Nation der großen Weltöffentlichkeit zu präsentieren. Ob im kommunistischen Moskau (Sommerspiele 1980) oder unter Putins Herrschaft in Sotschi (Winterspiele 2014), Russland zeigte sich nicht weniger macht- und prachtbewusst als China mit Peking, die weltweit bis heute einzige Stadt, in der Sommer- (2008) und Winterspiele (2022) stattgefunden haben. Zweimal durfte Deutschland Sommerspiele ausrichten: 1936 in Berlin und 1972 in München. Beide Veranstaltungen standen unter keinem guten Stern. Berlin und damit Hitlers Nationalsozialisten, die den Zuschlag vor allem auch dem schwer antisemitischen US-amerikanischem IOC-Funktionär Avery Brundage verdankten, wurde zur Propagandabühne einer Politik, die nur wenige Jahre später eine bis dahin ungekannte Blutspur durch die Welt gezogen hat. 36 Jahre danach wollte sich das Nachkriegs- und Wiederaufbaudeutschland mit betont einladenden und freundlichen Spielen in München von einer ganz anderen Seite zeigen. Das Ergebnis darf als bekannt vorausgesetzt werden. Ein kaum existenter und völlig inkompetenter Sicherheitsdienst ermöglichte die Ermordung jüdischer Sportler durch palästinensische Terroristen und ein weiteres Blutbad bei der missglückten Befreiungsaktion am Militärflughafen von Fürstenfeldbruck. Aber Brundage, mittlerweile IOC-Präsident und in Österreich nach dem Ausschluss von Karl Schranz von den Winterspielen im selben Jahr in Sapporo ohnehin „Persona non grata“, stellte pathosgeladen fest: „The games must go on!“
Drittens: Die einzigartige öffentliche Präsenz von Spielen ist immer auch eine Chance für Sportlerinnen und Sportler – wenn auch verbotene – politische Botschaften zu platzieren. So auch 1968 in Mexiko City, als zwei farbige Sprinter aus den USA bei der Siegerehrung zum 200-Meter-Lauf mit schwarzem Handschuh und erhobener Faust sich als Sympathisanten der Black-Power-Bewegung deklarierten. Ihre Medaillen wurden ihnen aberkannt, die Bilder dazu sind allerdings bis heute fest im kollektiven Gedächtnis verankert geblieben.
Viertens: Eigentlich ist er nur inoffiziell, der Medaillenspiegel. Aber diese Rangliste der Nationen hat unverändert einen kaum zu überbietenden Stellenwert! Paris 2024? USA oder China? Wir werden es sehen, welche der beiden verbliebenen politischen Supermächte sportlich ganz vorne stehen werden!
Erschienen im Rahmen der Serie „ZEITDIAGNOSEN” von Hans Putzer.