Künstlich! Intelligent?  Bildung ist mehr!

von NEUES LAND

Die Diskussionen über die Software ChatGPT haben das Thema „Künstliche Intelligenz“ (KI) endlich in ein breiteres Bewusstsein gebracht. Beitrag von Hans Putzer

 

 

Eine Beobachtung vorweg: In Konferenzzimmern und an manchen Lehrerstammtischen, an denen natürlich auch Lehrerinnen ihren Platz haben, wird zuweilen über das sogenannte „Bulimie-Lernen“ gelästert. Diese im „richtigen Leben“ vorrangig bei Magersüchtigen zu findende Ess-Brech-Störung dient dann als Metapher für ein Schülerverhalten, bei dem möglichst viel Stoff in kürzester Zeit gelernt und bei der Prüfung dann sprichwörtlich „rausgekotzt“ wird. Anschließend ist der Magen – oder besser gesagt das Gedächtnis – wieder frei für die nächste „Leistungsfeststellung“. Das alles habe doch mit einem „Lernen fürs Leben“ nichts zu tun, so die Pädagoginnen und Pädagogen zwischen Enttäuschung und dennoch realistischer Erwartungshaltung.

Kompetenzorientierung

Sinnvoller wäre es allerdings, zu überlegen, warum dieser Mechanismus von Wissensaneignung und -wiedergabe sich so durchsetzen konnte. These: Die Lehrplanreformen der letzten Jahre beruhen zwar auf einer richtigen „Diagnose“, haben aber die falsche „Medizin“ verschrieben. Richtig ist es gewesen, von der vorrangigen Wissens- und Faktenvermittlung wegzugehen, doch die sogenannte „Kompetenzorientierung“ ist als Konzept für die Zukunft wohl nur – wenn überhaupt – eingeschränkt tauglich. Konrad Paul Liessmann weist nicht ohne Grund darauf hin, dass diese „Kompetenzorientierung“ – Bildung richtet sich vor allem an Kriterien wie Nutzen, Anwendbarkeit und Effizienz aus – letztlich die Entwicklungspotenziale nicht fördert, sondern reglementiert. Dass zugleich, vor allem in Höheren Schulen, ein nur wenig verändertes Schwergewicht auf Wissens- und Faktenüberprüfungen gelegt wird, Stichwort: Bulimie-Lernen, macht das Ganze sicherlich auch nicht einfacher.

Nur erschwindelt?

Das alles hat mehr mit den unaufhaltsamen Entwicklungen im Bereich der „Künstlichen Intelligenz“ zu tun, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet im Bildungsbereich und hier insbesondere von den Höheren Schulen und Universitäten im Zusammenhang mit Softwareprogrammen wie ChatGPT eine Diskussion losgetreten wurde, die – und wir sollten das mit großer Dankbarkeit begrüßen – in der Bevölkerung nun auch in einem breiteren Umfang geführt wird.

In der Tat, ChatGPT ist eine Software, die unter anderem für Journalisten, Politiker oder eben auch Schüler, die weibliche Form sei hier bitte immer mitgedacht, Texte, Reden oder Aufsätze schreiben kann, die kaum mehr von Selbstverfasstem zu unterscheiden sind. Im Landtag Steiermark hat zuletzt ein Abgeordneter der NEOS eine solche – wenig beachtete – Rede gehalten und nicht nur in internationalen Medien werden längst vor allem kürzere Informationen automatisiert hergestellt.

Mögliches Schwindeln?

In den Schulen aber scheiden sich die Geister. Während die einen für mehr Gelassenheit plädieren, befürchten die Kritiker von solchen Programmen vor allem neue Möglichkeiten des „Schwindelns“, ein „Erschleichen von guten Noten“ und das Fehlen „eigenständiger Leistungen“. Manche sehen hier schon das Ende von Hausaufgaben am Horizont, andere eine Schule, in der Leistung nicht mehr messbar sein wird. Gemach und mit Verlaub, da stellt sich dem interessierten Außenstehenden schon die Frage, welches Verständnis von Unterricht hier sichtbar wird.

Sollte es den Pädagoginnen und Pädagogen nicht mehr um die Begleitung und Förderung von Bildungsbiografien gehen als um eine übertriebene Fixierung auf das Überprüfbare? Was heißt schon „eigenständige Leistung“ angesichts selbstverständlich gewordener leistungsstarker Taschenrechner oder der vielfältigen Datenbanken im Internet? Der Erwerb von Wissen und Kenntnissen ist schließlich immer schon ein Aneignungsprozess unter Zuhilfenahme unterschiedlicher Instrumente gewesen.

Auf den Spuren von Marco Polo

Wer im Spätmittelalter mehr über China wissen wollte, war auf die für die meisten Menschen noch kaum zugänglichen Reiseberichte Marco Polos angewiesen. Später verbrachte man für dasselbe Anliegen viele Stunden in Bibliotheken, dann kamen die leicht erwerbbaren Sachbücher, schließlich multimediale Datenträger und -banken. Informationen und Wissensinhalte sind heute für jedermann fast jederzeit und überall sofort verfügbar. Wenn deren Wiedergabe zur Grundlage schulischer Leistungsbeurteilungen wird, ist das alles höchst anachronistisch. Aber zugegeben, damit sind wir noch nicht zum Kern des Problems vorgestoßen.

Schach und Beethoven

Henry Ford, der revolutionäre Autobauer am Beginn des 20. Jahrhunderts, hat einmal so treffend festgestellt: „Wenn ich die Menschen gefragt hätte, was sie wollen, hätten sie gesagt schnellere Pferde.“ Programme wie ChatGPT sind – zumindest heute noch – weitgehend solche „Pferde“. Ein paar Beispiele zur Illustration: Universitäten in Deutschland und in den USA haben herausgefunden, dass wir in der Lage sind, Grippewellen sehr präzise vorauszusagen, wenn wir die regionalen Chats, Facebook- oder WhatsApp-Einträge möglichst flächendeckend von leistungsstarken Rechnern auswerten lassen. Auch die beliebten Kundenkarten im Handel sind vor allem Datenträger für künftig personalisierte Werbung. „Big Data“ (für Menschen unüberschaubar große Datenmengen) ist hier der Schlüssel. So haben wird heute bereits Schachcomputer, gegen die selbst der charismatische norwegische Weltmeister Magnus Carlsen chancenlos ist. Und längst lernen die besten Schachprogramme nicht mehr von Partien gegen Menschen, sondern von Spielen gegeneinander.

Beethovens 10. Symphonie

Ein weiteres in diesem Zusammenhang interessantes Beispiel ist Beethovens 10. Symphonie. Richtig! Es gibt nur neun! Aber es gibt ein paar spärliche Skizzen des Komponisten für eine „Zehnte“. Im Gegensatz zu Mozarts Requiem, Bruckners „Neunter“ oder Mahlers „Zehnter“, allesamt „unvollendet“, lässt bei Beethoven das vorhandene Material weitaus weniger auf die nicht mehr umgesetzten Absichten des Komponisten schließen. So sind bis vor kurzem auch alle Versuche, dem vermeintlichen Willen Beethovens folgend, das Werk fertigzustellen, meist schon während der Arbeit gescheitert. 2021 gab es dann endlich die „Uraufführung“ der mit Hilfe von KI und anerkannten Beethoven-Experten „komponierten“ Symphonie. Man hat zuvor, ein wenig vereinfacht gesagt, den „ganzen“ Beethoven zur Programmierung eingespeist und die „Zehnte“ quasi hochgerechnet, ähnlich wie wir es von Wahlabenden im Fernsehen kennen. Die Begeisterung in der Musikwelt war enden wollend, die Aufführung – es gibt mittlerweile auch eine CD – wurde zwar als „interessant“, aber mehr als „künstlich“ denn als „Kunst“ beschrieben.

Das alles kam letztlich nicht überraschend, denn Beethoven war gerade als Symphoniker ein Komponist, der sich ständig neu „erfunden“ hat. Musikkenner wissen, dass kein Algorithmus dieser Welt nach den ersten beiden Symphonien die „Eroica“ (die „Dritte“) komponieren hätte können, auch die „Achte“ atmet einen ganz anderen Geist als ihre berühmten drei Vorgängerwerke.

Während KI bei Schach höchst erfolgreich ist, blieb sie bei Beethoven eine Randnotiz. Schach ist ein Spiel, das zwar eine enorm hohe Zahl von Varianten aufweist, aber zugleich einen klar umrissenen Rahmen und dementsprechende Regeln hat. Schachspieler sind umso besser, je mehr Varianten sie gleichzeitig denken können. Als „kreativ“ gilt hier, wer einen noch nie gedachten Zug ins Spiel bringt. Große Kunst, aber wohl auch bedeutende Wissenschaft, ist dagegen immer auch die Fähigkeit, über die bisher vorhandenen „Daten“ hinaus und neu zu denken, den „Regelrahmen“ zu sprengen, eben Autos zu bauen und nicht schnellere Pferde zu züchten.

Bildung ist mehr

Was wir daraus lernen können, hat wiederum viel mit den Diskussionen um ChatGPT zu tun. Auf der Basis von möglichst vielen Daten wird hier Denken simuliert. Doch, um noch einmal Konrad Paul Liessmann zu zitieren: „Ein Datenspeicher hat keine Bildung“. Die Antwort auf diese neuen Herausforderungen liegt also nicht bei noch genaueren und besseren Überprüfungsinstrumenten, sondern in einer Pädagogik, die den Unterschied zwischen Information, Wissen und Bildung nicht nur kennt, sondern daraus auch die richtigen Schlüsse zieht. Sprachgeschichtlich hat „Bildung“ zwei Wurzeln, zum einen, die Fähigkeit sich von der Welt ein Bild zu machen und zum anderen das Vermögen, an der Entwicklung der Welt mitzubauen. Bildungsanstalten, denen es nicht gelingt, den ihnen anvertrauten jungen Menschen jene Neugierde für die Welt einzupflanzen, dass sie dafür ihre eigene Sprache finden wollen und können, sollten dafür nicht Programmen wie ChatGPT die Schuld geben.

Berechtigte Warnung

Genau genommen geht es hier ohnehin um viel mehr. Yuval Noah Harari, einer der wichtigsten Denker unserer Zeit, warnt zurecht vor Entwicklungen im Bereich der KI, die wir Menschen nicht mehr kontrollieren werden können, wo nur mehr eine kleine Gruppe von Freaks im Silicon Valley oder wo auch sonst die uneingeschränkte Macht über alle haben wird; wo uns Simulationsprogramme vorrechnen, dass der Mensch für die Zukunftsfähigkeit unserer Erde eine denkbar schlechte Lebensform darstellt und aus dieser Erkenntnis die völlig „rationalen“ Konsequenzen ziehen werden. Das ist der wahre Bildungsauftrag für das 21. Jahrhundert, nicht das Beharren auf Kompetenzorientierung oder Leistungsfeststellungen.

 

Beitragsfoto: Somchai – stock.adobe.com 

 

 

 

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