Silke Pauritsch ist eingetragene Mediatorin, Generationen-Coach und Inhaberin der Streit.Werk.Statt. Sie spricht über die Hintergründe, warum es vor allem zu Weihnachten oft zu großem Stress, Streit und Missmut kommt.
NEUES LAND: Weihnachten gilt als Inbegriff des Familienfestes, doch bei näherer Betrachtung klagen viele Menschen unter Stress und Streit. Warum ist der Frieden in der Familie gerade zu Weihnachten so zerbrechlich?
Silke Pauritsch: Weihnachten ist für viele Familien der festliche Höhepunkt des Jahres. Schauen wir uns nur die Werbungen aktuell an. Alles glänzt, Harmonie und Freude wohin man blickt. Als wäre die Welt zu Weihnachten eine andere, eine ohne Sorgen und Stress, ohne Druck, ohne Krankheit und ohne Einsamkeit. Die Erwartungen an ein perfektes Fest sind sehr groß. Damit ist aber auch das Risiko enttäuscht zu werden hoch. Arbeitsreiche Vorbereitungen und jede Menge Spannungen. In vielen Familien und Beziehungen haben sich über das Jahr schwierige Themen und ungeklärte Konflikte angestaut. Unter dem Druck weihnachtlicher Harmonie, reicht dann eine Kleinigkeit und der Faden reißt. Der weihnachtliche Streit ist da. Das Jahresende ist für viele der Zeitpunkt, um einen prüfenden Blick auf die vergangenen 12 Monate zu werfen. Haben sich die Ziele und Pläne nicht so realisieren lassen, wie erhofft, sind persönliche Unzufriedenheit und Frustration oft die Folge. Damit ist die Weihnachtsstimmung erst einmal dahin. Die persönliche Gereiztheit über den eigenen Misserfolg, entlädt sich nicht selten beim Familienessen oder einer anderen Gelegenheit. Nicht zu vergessen, die Kunst jeden zu besuchen, der besucht werden will oder soll. Hier entsteht leider ein immenser Druck und die Freude an Weihnachten geht vollkommen verloren. Weil man es jedem recht tun möchte, stellt man die eigenen Bedürfnisse ganz hinten an.
Meine Empfehlung: Die eigene Familie ist die Basis. Innerhalb dieser Familie sollte es Klarheit über die Wünsche und Bedürfnisse jedes einzelnen Mitglieds geben. Von diesen ausgehend wird dann geplant und entschieden, wer wann wo besucht und eingeladen wird. Ich erlebe immer wieder, dass Entscheidungen, die klar und liebevoll kommuniziert werden, auch gut aufgenommen werden und wenig Anlass für Konflikte geben. Also nur Mut!
Zu Weihnachten und im Urlaub
NL: Stimmt es, dass zu Weihnachten und im Urlaub in den Familien am meisten gestritten wird?
Pauritsch: Ja, Weihnachten und Urlaub sind tatsächlich Hoch-Zeiten für Streit. Ist aber auch gar nicht verwunderlich. An beide Ereignisse sind große Erwartungen geknüpft. Es sind begrenzt verfügbare Zeiträume. Wir können sie nicht einfach wiederholen. Neben den eigenen Erwartungen gibt es auch die gesellschaftlichen, also jene unseres sozialen Umfeldes: „Ich muss mich im Urlaub erholen, wir müssen die Zeit miteinander genießen, wir müssen etwas erleben, wir müssen einen großen Weihnachtsbaum haben usw.“ Und wann sonst verbringen wir so viel „Quality Time“ miteinander? Fällt der „schützende“ Alltag weg, wird einfach vieles sichtbar und spürbar. Die täglichen Pflichten und Aufgaben fordern unsere ganze Aufmerksamkeit und lassen uns über Unstimmigkeiten und Differenzen hinweg leben.
Im Zeichen von Corona
NL: Wie wirkt sich Corona auf die derzeitige Gefühlslage und Streitkultur der Menschen aus?
Pauritsch: Das ist ein sehr großes Thema. Ein Thema, das auch mich sowohl persönlich als auch als Mediatorin fordert. Corona ist in vielerlei Hinsicht eine Herausforderung für die ganze Welt. Dieses Problem betrifft alle und wir werden es nur gemeinsam in den Griff bekommen. Es zeigt uns unbarmherzig in allen Bereichen Grenzen auf. Wie wir mit dem Thema Corona umgehen, ist fast ein Spiegelbild unserer Gesellschaft. Selbstbestimmung und die Freiheit des Einzelnen stehen mit Solidarität, Empathie sowie Freiheit und Schutz der Gemeinschaft im Wettstreit. Weil das Virus jeden betrifft, hat auch jeder eine Meinung und eine Haltung dazu. Die meisten von uns sind es nicht gewohnt mit Einschränkungen umzugehen. Wir kennen eine Welt, die uns so gut wie alles ermöglicht. Auch sind wir es nicht gewohnt, als Bürger*in auch Pflichten zu haben. Viele Menschen haben Angst, fühlen sich missverstanden oder nicht gesehen. Frustration, Erschöpfung, Wut und Verzweiflung sind zu beobachten. Diese Gefühle stellen sich unabhängig vom Impfstatus bei Menschen ein. Auch ich bin manchmal wütend, enttäuscht und frustriert. Ich merke, dass auch mein Verständnis Grenzen hat. Es enttäuscht mich, dass Solidarität für viele Menschen kein attraktiver Wert zu sein scheint. Leider gibt es viel zu wenig konstruktiven Austausch. Irgendwann hat man uns in Geimpfte und Ungeimpfte eingeteilt. Das haben wir zugelassen. Seitdem werden die beiden Positionen ohne Wenn und Aber verteidigt. Es hat sich ein Gegeneinander entwickelt, in einer Zeit, in der das Miteinander der wesentliche Erfolgsfaktor sein wird. Unterschiedliche Ansichten sind in Ordnung. Sie dürfen aber nicht festgefahren sein. Eine gute Streitkultur, ich spreche gerne von einer Auseinandersetzungskultur, lebt von einer offenen und neugierigen Haltung anderen Ansichten gegenüber. Nur, wenn ich bereit bin dazuzulernen, macht Austausch Sinn. Eine solche Streitkultur pflegen wir in Österreich nicht unbedingt. Ich erlebe immer wieder Schwarz-Weiß-Denken und die Haltung, dass jeder der nicht derselben Meinung ist, der Feind ist. Jeder kennt jemanden der eine andere „Corona Überzeugung“ hat. Viele haben den Kontakt abgebrochen oder sie reden nicht mehr über Corona. In letzter Konsequenz ist es immer besser ein „heißes“ Thema nicht mehr zu diskutieren, als den Kontakt abzubrechen. Wünschenswert wäre es jedoch, den Austausch lebendig zu halten. Einander wirklich zuzuhören und zu überprüfen, ob das was man da erzählt bekommt, eine wertvolle Information ist.
Für Rechthaber ist das natürlich keine Option.
Gute Gespräche
NL: Können heutzutage die Familienmitglieder miteinander noch gute Gespräche führen oder stellen Sie in ihrer Praxis diesbezüglich ein immer größer werdendes Unvermögen fest?
Pauritsch: Ja und Nein. Viele Menschen sind sehr reflektiert. Sie hinterfragen und überdenken das eigene Tun sehr genau. Viele sind dabei sehr streng mit sich. Sie wollen nicht verletzen und nicht verletzt werden. Es wird viel interpretiert und angenommen, um sich das Verhalten des Gegenübers zu erklären. Oft wird zu wenig ausgesprochen, angesprochen und hinterfragt. Irritiert uns eine Aussage, suchen wir lieber nach einer Erklärung, statt einfach zu fragen, wie das gemeint war oder zu sagen, dass wir irritiert sind. Bei schwierigen Gesprächsthemen stellt sich oft die Frage, wie man das Gespräch am geschicktesten anlegt. Die Angst vor Konflikten ist groß. Streitgespräche werden von den meisten Menschen als negativ empfunden. Sie verbinden Ärger, Schmerz und Unangenehmes damit. Die Konsequenz ist, Konflikte um jeden Preis zu vermeiden. Das hat natürlich eine Auswirkung auf die Themenauswahl und die Intensität der Gespräche, die wir miteinander führen. Gespräche bleiben deshalb oft an der Oberfläche, weil man sich nicht traut die eigene Meinung auszusprechen. Lieber ein belangloses, harmonisches Gespräch als eine ehrliche, offene Auseinandersetzung. In vielen Dingen ist es ja auch eine kluge Entscheidung keine Diskussion vom Zaun zu brechen. Hört man aber komplett damit auf, auch Dinge zu besprechen, die schwierig sind, wird man sich mit der Zeit entfremden. Oft ist Nicht-ausgesprochenes der Grundstein für eine spätere Eskalation. Immer wieder kommen Familien zu mir, die keine Erfahrung mit Konflikten haben. Sie sind Streitgesprächen immer ausgewichen. So haben sie nie geübt mit Differenzen umzugehen, sie fühlen sich überfordert, enttäuscht und frustriert, dass so etwas in ihrer Familie passiert.
Gesprächskiller
NL: Was sind – nicht nur zu Weihnachten – die häufigsten Gesprächskiller?
Pauritsch: Gesprächskiller gibt es viele. Es gibt die ganz individuellen Zündstoffe, also jene, die speziell den einen Menschen auf die Palme bringen und ein konstruktives Gespräch unmöglich machen. Kaum jemand kennt diese Zündstoffe so gut, wie Menschen, die uns nahestehen. Und es gibt allgemeine Gesprächskiller. Vorwürfe zum Beispiel. Sie sind besonders wirkungsvoll, wenn es darum geht ein Gespräch in einen Schlagabtausch zu verwandeln. Wir möchten zum Beispiel, dass unser Gegenüber uns anders behandelt und formulieren diesen Wunsch als Vorwurf. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird die Antwort ebenfalls ein Vorwurf sein. Ruckzuck und der Kreislauf von Angriff und Verteidigung ist losgetreten. Dabei verliert man völlig aus den Augen, worum es eigentlich geht. Nämlich um ein bestimmtes Verhalten, das verletzt hat oder eine (sehr oft) unbeabsichtigte Folge hatte. Unsere Bereitschaft etwas zu verändern wächst, wenn wir verstehen, warum wir es tun sollen. Fühlen wir uns angegriffen, verteidigen wir uns.
Ein weiterer Killer sind keine Zeit und Gespräche im Vorbeigehen. Dabei werfen wir uns Wortfetzen zu und sind der Meinung, dass wir eh miteinander gesprochen haben. Diese Situation kennt bestimmt jeder. Als angenehm wird das meistens nicht empfunden und die Verständigungsqualität ist meistens mangelhaft. Geht es dabei um wichtige Themen, sind Missverständnissen und Missempfindungen Tür und Tor geöffnet.
„Nicht zu hören“ kommt leider auch sehr häufig vor und verhindert jeden konstruktiven Austausch. Echtes Zuhören erfordert volle Aufmerksamkeit und kann durchaus anstrengend sein. Es ist aber notwendig, wenn wir unseren Gesprächspartner verstehen wollen.
NL: Wenn es in der Adventzeit oder zu den Festtagen zu Streitgesprächen kommen sollte, was sollte man dabei unbedingt beachten?
Pauritsch: Wer nimmt teil an dem Gespräch. Bricht ein solches Gespräch im Beisein der Familie aus, hat wahrscheinlich jeder eine Meinung dazu. Streitgespräche sollten nur zwischen den Beteiligten geführt werden. Sonst ist die Gefahr sehr groß, dass die Angelegenheit eskaliert und am Ende alle Anwesenden miteinander streiten. Familienzusammenkünfte sind jedenfalls nicht der richtige Zeitpunkt für schwierige Gespräche. Am besten man steigt auf das Streitangebot nicht ein. Das Thema wechseln und bei Bedarf einen Termin zur Aussprache vereinbaren.
Lässt sich das Thema nicht lösen und wird das Gespräch immer emotionaler, ist es an der Zeit die Notbremse zu ziehen und das Gespräch zu beenden. Wichtig ist dabei, dass man vereinbart das Thema zu einem anderen Zeitpunkt weiter zu besprechen. Am besten einen Termin dafür ausmachen. So gewinnt man etwas Abstand und blickt vielleicht anders auf die Angelegenheit. Wenn es aber mit eigenen Bemühungen nicht mehr gelingt sachlich zu diskutieren und in ein Wirrwarr von Anschuldigung und Rechtfertigung schlittert, sollte man die professionelle Unterstützung eines Mediators in Anspruch nehmen.
Tipps fürs Schenken
NL: Eng mit Weihnachten verbunden sind auch Geschenke. Haben Sie Tipps parat, was man dabei beachten sollte?
Pauritsch: Geschenke sind oft ein heißes Thema. Vor allem wenn es um die Geschenke für die Kinder geht. Der Grundgedanke des Schenkens ist es, dem Beschenkten eine Freude zu machen. Wünschenswert wäre es, dass man ohne Zwang und nach eigenem Ermessen schenkt und schenken darf. Nun ist die Realität aber oft anders. Eltern, Großeltern, Tanten, Onkel usw. haben unterschiedliche Vorstellungen über angemessene Geschenke. Keine, viele, kleine, große, Geld, Gutscheine und so weiter. Die meisten Probleme entstehen, weil nicht offen darüber gesprochen wird. Über ein paar Ecken, gelangt die Unzufriedenheit über die Geschenke, dann aber doch bis zum Schenkenden. Und damit ist der Ärger vorprogrammiert.
Es gibt kein Patentrezept. Meine Empfehlung ist, wie auch bei anderen Themen: Miteinander reden, die eigenen Gedanken mitteilen, einander zuhören und zu verstehen versuchen. Um welche Bedürfnisse geht es und wie können möglichst alle erfüllt werden? Lösungen gibt es immer, die sehen nur oft anders aus, als das, was wir gerade im Kopf haben. Gespräche erscheinen häufig als ein aufwendiger Weg. Unterlässt man sie, entstehen aber gerne Konflikte, Missverständnisse und Verletzungen.
NL: Wären Sie selbst noch gerne ein Kind, das den Zauber von Weihnachten und des Christkinds noch als etwas Geheimnisvolles spüren darf oder kann man so etwas auch noch als Erwachsener erleben?
Pauritsch: Hmm, das Christkind gibt es nicht? Aber ich habe doch ein Foto vom Christkind. Als ich etwa vier Jahre alt war, habe ich wohl begonnen, an der Existenz des Christkinds zu zweifeln. Meine Eltern wollten mir noch etwas länger diesen „kindlichen Zauber“ gönnen. Sie haben sich also auf die Lauer gelegt und tatsächlich das Christkind fotografiert. Als sie mich ins Wohnzimmer mit dem glitzernden Christbaum und den Geschenken gerufen haben, konnte ich das Christkind sogar noch am Balkon davonhuschen sehen. Einige Jahre später haben mir meine Eltern erzählt, dass Oma sich kurzerhand in weißen Tüll gekleidet hat und auf unserem Balkon Christkind gespielt hat. Heute ist meine Oma 91 und als Christkind jedenfalls in Pension.
Ich versuche in meinem Leben immer ein bisschen Kind zu sein und ich nutze jede Gelegenheit Zauber zu erleben. Ganz egal, ob das eine verschneite Winterlandschaft ist oder ein Besuch des Cirque de Soleil. Auch in Mediationen gibt es magische Momente. Wenn Herzen aufgehen, fühlt es sich magisch an.
NL: Haben Sie für unsere Leserinnen und Leser einen speziellen Weihnachtswunsch?
Pauritsch: Ich wünsche uns allen, viel Neugier auf andere Meinungen und jede Menge spannende und gute Gespräche. Gesund bleiben!