Der Agrarlandesrat in einem am Dienstag geführten Interview über die Lebensmittelversorgung und die ersten Lehren aus der Coronavirus-Krise.
NEUES LAND: Herr Landesrat, wie geht es Ihnen selbst angesichts der dramatischen Auswirkungen der Coronavirus-Krise?
Hans Seitinger: Es ist ein einzigartiger Ausnahmezustand, der derzeit herrscht. In meiner Verantwortung als Landesrat habe ich schon so manche Krise miterleben und managen müssen, wie zum Beispiel die Vogelgrippe, BSE oder Naturkatastrophen. Aber diese Dimension ist unübertrefflich. Viele ältere Menschen sagen uns, dass es einen derartigen Ausnahmezustand seit dem 2. Weltkrieg nicht mehr gegeben hat. Es braucht jetzt große Disziplin, Solidarität und Vernunft! Allen sei herzlichst gedankt, die in dieser krisenhaften Zeit für die Allgemeinheit ihr Bestes geben!
NL: Was sind die wichtigsten Schritte, die in den nächsten Tagen gesetzt werden müssen?
Seitinger: Das Wichtigste ist das Vermeiden von unnötigen Sozialkontakten und die Versorgung! Höchste Priorität haben die kritischen Bereiche der Lebensinfrastruktur. Das heißt, dass das Gesundheitswesen, die Energie- und Lebensmittelversorgung gesichert sind. Da tauchen jeden Tag neue Probleme auf, etwa durch Hamsterkäufe, die den Rhythmus der Zulieferer stören, oder durch die massive Verschiebung im Konsumverhalten!
NL: Was meinen Sie damit?
Seitinger: Unsere bisherigen Lebensabläufe sind darauf ausgelegt, dass die Hälfte der Lebensmittel in der Gastronomie und in Großküchen eingenommen wird. Nun ändert sich das radikal. Jetzt wird zuhause konsumiert. Jetzt braucht es kleinere Gebinde und andere Vertriebswege.
NL: Unvergessen sind die Bilder der Hamsterkäufe in der vorigen Woche. Wie schaut es grundsätzlich mit der Lebensmittelversorgung im Land aus?
Seitinger: Die Versorgung mit heimischen Lebensmitteln ist derzeit sichergestellt. Ich habe am Samstag auch zu einem Lebensmittel-Versorgungsgipfel geladen, um mögliche Probleme im Lieferkreislauf zu identifizieren und um gegensteuern zu können. Eine der drängendsten Fragen war dabei jene des zusätzlichen Arbeitskräftebedarfs. Da haben wir mit dem Maschinenring einen bewährten Nothelfer. Landesobmann Sepp Wumbauer und sein Team – auch in den Regionen – leisten eine tolle Arbeit. Gemeinsam konnten wir bereits bei einigen Verarbeitungsbetrieben Personalnotstände überbrücken.
NL: Durch Grenzschließungen ist als neues Problem das fehlende Person in den Pflegeberufen, aber auch in den Lebensmittelbetrieben aufgetaucht. Wie stellt sich die Situation augenblicklich dar?
Seitinger: Mit Stand heute Dienstag sieht es so aus, dass wir für diese Mitarbeiter über das Außenministerium erreichen konnten, dass sie weiterhin die Grenzen passieren können. Das Krisenmanagement der Bundes- und der Landesregierung funktioniert ausgezeichnet, wie sich an diesem Beispiel zeigt. Wir hoffen, dass sich unsere Nachbarländer auch daranhalten. Eine gewisse Absicherung über eine begrenzte Beherbergung dieser Schlüsselkräfte in der Steiermark ist daher sinnvoll.
NL: Viele Märkte drohen völlig zusammenzubrechen. Kann man schon erste Schätzungen abgeben, welche Bereiche besonders darunter leiden werden?
Seitinger: Die globale Betroffenheit und die Ungewissheit über die Dauer dieser Krise machen es derzeit unmöglich, die Auswirkungen abzuschätzen. Der plötzliche Stopp aller Tourismusgeschäfte, Veranstaltungen und zum Teil große Hindernisse bei Exporten lassen jedoch große Spannungen erwarten. Daher ist der Faktor Zeit entscheidend. Wir müssen dieses Virus gemeinsam so rasch wie möglich zur Strecke bringen.
NL: Aber kann man vielleicht schon erste Lehren ziehen?
Seitinger: Ja, drei große Lehren kann man auf jeden Fall schon ziehen. Erstens: In Krisenzeiten erkennt man die Qualität der Politiker und der Politik insgesamt. Jede Entscheidung muss rasch gefällt und wohlüberlegt sein, denn Details entscheiden, ob unsägliches Leid oder aber eine Welle der Solidarität entsteht. Bundeskanzler Sebastian Kurz als Kopf des bundesweiten Krisenteams leistet herausragende Arbeit.
NL: Zweitens?
Seitinger: Auch unabhängig von Krisensituationen ist die Versorgung mit heimischen Lebensmitteln extrem wichtig! Gerade in guten Zeiten wird am Lebensmittelsektor nach der „Geiz ist geil“-Methode gelebt und damit die regionale, familiengeführte Landwirtschaft unter Druck gesetzt. Diese Krise muss unsere Gesellschaft wachrütteln! Wer jetzt nicht erkennt, welch unbezahlbare Leistung auf unseren Bauernhöfen erbracht wird und deren Arbeit und Produkte schätzt, wird sich in Hinkunft an leere Regale gewöhnen müssen. Nicht nur in Krisenzeiten.
NL: Und drittens?
Seitinger: Wir lernen aus der Krise, dass wir nicht unsere gesamte Versorgung dem globalen Markt überlassen dürfen. Es gibt Bereiche, wo es Sicherheit und Nachhaltigkeit braucht. Das betrifft unumstritten unsere Lebensmittel, die Energie und auch medizinische Produkte. Es ist überlebenswichtig, dass wir unsere Lebensgrundlage nicht China und fernen Ländern überlassen. Das sehe ich für die Zukunft als großen Auftrag, aber auch als große Chance für unser Land und die Europäische Union.
Beitragsfoto: Lebensressort