Auch wenn heute fast niemand mehr vom „Gesellschaftsvertrag“ redet, wir sollten diesen Begriff der klassischen Staatstheorie nicht länger ignorieren. Ein Beitrag von Hans Putzer im Zuge seiner Serie „Zeitdiagnosen“.
Wirtschaftskammerpräsident Harald Mahrer hat in einem Interview mit der „Kleinen Zeitung“ am 20. Mai dieses Jahres Bemerkenswertes formuliert: „Wir brauchen dringend einen Ordnungsruf: Mit sozialem Trittbrettfahrertum wird es nicht gehen. Wer glaubt, er kann sich aus dem Getriebe herausnehmen und weniger arbeiten, aber trotzdem 365 Tage im Gasthaus bedient werden oder im Krankenhaus Leistungen erhalten, der bricht den Gesellschaftsvertrag.“ Wovon spricht hier Mahrer?
Verträge, so weit, so bekannt, regeln verbindlich Übereinkünfte der beteiligten Vertragspartner, sie definieren insbesondere die jeweiligen Rechte und Pflichten. Das gilt auch für den „Gesellschaftsvertrag“ im engeren staatstheoretischen Sinn. Seine Aufgabe ist es, die Interessen des Einzelnen und jene der Gesellschaft trag- und zukunftsfähig zu organisieren. Auch wenn ein solcher Vertrag naturgemäß immer ein politisches, nie aber ein rechtlich unanfechtbares Dokument sein kann, braucht wohl jede Gesellschaft solche Übereinkünfte, die aus dem tagespolitischen Streit zu stellen sind.
Hier lohnt sich vielleicht ein kurzer Blick in die Geschichte: 1651 hat der englische Staatsphilosoph Thomas Hobbes als Erster wirkmächtig von einer innergesellschaftlich-vertraglichen Ordnung gesprochen, in der nicht mehr Herrschaft als von Gott abgeleitet verstanden werden darf. Hobbes hatte keine gute Meinung von den Menschen. Bürger- und Konfessionskriege ließen ihn an einer Gesellschaft, in der nicht mehr jeder nur auf seinen eigenen Vorteil aus ist, zweifeln. Dass Hobbes sich als Garant für ein sicheres und geordnetes Zusammenleben einen allmächtigen absolut regierenden Souverän vorgestellt hat, brauchen wir als Demokraten natürlich nicht nachvollziehen.
Dennoch sind Hobbes Ideen, vor allem wenn wir als „Souverän“ heute die Gesamtheit aller Menschen einer Staatsgemeinschaft verstehen, unverändert aktuell: Sicherheitsgarantie durch den Staat, Gewaltmonopol beim Staat, Verpflichtung des Volkes, die Regeln des Staates zu befolgen, große Bedeutung und Verantwortung der staatstragenden Institutionen.
1762 wird Jean-Jacques Rousseau in seinem „Gesellschaftsvertrag“ die Gedanken von Hobbes noch dahingehend weiterführen, dass er davon überzeugt sei, ein solcher Vertrag mit Rechten und Pflichten würde die Menschen auch insgesamt verbessern. Der entscheidende Punkt bei beiden ist die Überzeugung, dass die individuellen Interessen, die persönlichen Egoismen, nie zu Lasten der Gesamtheit eines Gemeinwesens gehen dürfen. Womit wir wohl beim dem angelangt wären, wovon Harald Mahrer gesprochen hat.
Politik von den Rändern
In einer Gesellschaft, in der nur mehr die persönlichen Interessen dominieren, sind politische Polarisierungen fast zwangsläufig. Selbst traditionell integrative Parteien der Mitte wandern wie die ÖVP zunehmend nach rechts oder die SPÖ nach links. Plötzlich werden marxistisches Gedankengut oder auch rassistische Hetze wie von der FPÖ im letzten Grazer Gemeinderatswahlkampf wieder salonfähig. Andreas Babler, der neue SPÖ-Parteiobmann, ist in seinem Auftreten, aber auch in seinem Politik-Verständnis von Herbert Kickl kaum zu unterscheiden: Hetze gegen die EU, Durchsetzung der eigenen, wenn auch noch so gemeinschaftsgefährdeten Ideen um jeden Preis. Politik, die Menschen nicht mehr verbindet, sondern sie gegeneinander ausspielt, schadet am Ende allen. Man ist gewillt, wieder „Wehret den Anfängen“ zu rufen, nach links und nach rechts!
Kein Vertrauen in die Justiz
Man muss kein Freund von Karl-Heinz Grasser sein, um die Never-ending-Story seines Prozesses zu kritisieren. Man muss schon erst recht kein Freund von HC Strache sein, um mit der Tageszeitung „Die Presse“ vom 11. November 2022 festzustellen, dass es in seinem Match gegen die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) 10:0 für den früheren FPÖ-Obmann steht. Und man darf sich ruhig wundern, warum bei allem inhaltlichen Verständnis für die Anliegen der Klimakleber vor allem eines nie laut und deutlich gesagt wird: Alle Aktionen sind zuallererst reiner Rechtsbruch. Und man kommt last but not least aus dem Staunen nicht heraus, wenn rechtlich erlaubte und ohnehin streng beschränkte Abschüsse von Wölfen in Tirol nun mit der Botschaft kommuniziert werden, dass die hier völlig legal handelnden Jäger höchsten Anonymitätsschutz erhalten, um ihre Sicherheit und die ihrer Familien vor Übergriffen extremistischer Wolfsschützer zu gewährleiten.
Inhaltlich kann man über jeden dieser vier „Fälle“ gerne und durchaus geteilter Meinung sein. Was aber wohl gar nicht geht: Jedes dieser Beispiele führt zu einem unermesslichen Vertrauensverlust in die österreichische Justiz. Und jede Wette: Der Prozess gegen Sebastian Kurz wird garantiert zeitnah zur nächsten Nationalratswahl stattfinden. Das sprichwörtliche Tüpfchen auf dem „I“ ist wohl angesichts einer Reihe verlorener Prozesse die Forderung der WKStA nach einem eigenen Gerichtshof für Wirtschafts- und Korruptionsdelikte. Wenn ein Urteil nicht passt, muss man halt ein neues Gericht erfinden.
Familie als „Auslaufmodell“
Man mag es ja fast nicht glauben, auch die „Institution“ Familie gerät zunehmend unter Druck. Da ist zu einem kleineren Ausmaß auch die politische Praxis mit schuld, die es trotz aller anerkennenswerten Familienleitungen bis heute nicht geschafft hat, Kinderbetreuungszeiten für die Pension in gleichem Maß wie eine Berufstätigkeit anzurechnen. Viel schwerwiegender ist allerdings der ideologisch geführte Kampf gegen ein familiäres Zusammenleben insgesamt. Wie vielen Klimaklebern der „letzten Generation“ geht es hier schon längst nicht mehr um das vordergründig artikulierte Anliegen, sondern um eine völlige Zerstörung unserer Gesellschaftsordnung. So hat beispielsweise der ORF erst kürzlich am 30. Mai der Berliner Politikwissenschaftlerin Emilia Roig in Ö1 eine ganze Stunde zur Verfügung gestellt, um deren Thesen vom erwünschten Ende von Ehe und Familie zu präsentieren: Die Ehe sei eine Erfindung des Patriarchats und verdränge die Frauen aus der Öffentlichkeit.
Familien in unserem heutigen Sinn seien wiederum ohnehin bloß eine „Erfindung“ der „Industriellen Revolution“ und daher bald wieder überflüssig. Dass dieses „Zeitalter der Familie“ allerdings deckungsgleich mit dem „Zeitalter des wachsenden Wohlstands“ verlaufen ist, wird ausgeblendet. Ebenso wie Studien, die zeigen, dass viele jungen Frauen Familie und ein zeitlich begrenztes Zuhause-Bleiben bei den Kindern wollen.
Die Quadratur der Greise
In der Tat haben wir es hier mit einer paradoxen Situation zu tun. Wir können auch von einem neuen Generationenkonflikt reden. Junge Menschen von heute können im Gegensatz zu allen Jugendlichen zuvor – zumindest seit 1945 – nicht mehr von einer besser werdenden Zukunft ausgehen. Sie kommen, um einen Buchtitel von Lukas Sustala aufzugreifen, „Zu spät zur Party“. Sie bekommen nun nicht nur die Rechnung für den von ihren Eltern – oft auch auf „Zukunftspump“ – erwirtschafteten Wohlstand präsentiert, sie sind zugleich auch Nutznießer dieser Entwicklung. Keiner Jugend zuvor ist es so gut gegangen. Aber wir müssen ihre Sorgen dennoch ernst nehmen. Allein die demografische Entwicklung wird dazu führen, dass sie für ungleich mehr Menschen im Ruhestand arbeiten werden müssen als es für die Generation der Babyboomer jemals der Fall war. Solidarität zwischen den Generationen wird künftig keine Einbahnstraße mehr sein können.
Das Schrumpfen der Kirche
Karel Schwarzenberg, der frühere tschechische Außenminister mit starkem Steiermark-Bezug, hat einmal gemeint, er fürchte sich nicht vor vollen Moscheen bei uns, sondern vor leeren Kirchen. Kaum eine europäische Institution hat trotz ihres gewiss nicht kurzen Sündenregisters den inneren Zusammenhalt – wenn man so sagen will, auch den Gesellschaftsvertrag – vergleichbar getragen wie die Kirche. Doch allein von 2015 – dem Jahr der Bischofsbestellung von Wilhelm Krautwaschl – bis 2021 sind knapp weniger als 74.000 Katholikinnen und Katholiken in der Diözese Graz-Seckau aus der Kirche ausgetreten; die sogenannten Widerrufe in den ersten drei Monaten sind hier schon mitgerechnet.
Man sollte sich darüber nicht wundern. Eine Kirche, die außerhalb ihrer vier eigenen Wände immer seltener von Gott, von Erlösung, aber auch von der Sünde, dafür aber immer öfter und meist undifferenziert von Dekarbonisierung, Asylanten und vermeintlicher Armut spricht, verfehlt ihren Auftrag. Statt sich den Menschen zuzuwenden, verpuffen ihre ohnehin nur mehr geringen Kräfte in synodalen Prozessen zur inneren Ordnung und im zeitgeistigen Mitschwimmen.
Und was jetzt?
Die wenigen Zeilen, die hier noch frei sind, lassen nur mehr eine kurze Antwort in drei Schlagworten zu (mehr ein anderes Mal): Wir müssen erstens wieder lernen, dass jeder Verantwortung auch dafür hat, was über ihn hinaus geht. Wir müssen zweitens wieder verstehen, dass es keine Rechte ohne Pflichten gibt und drittens: Miteinander zu leben gelingt nur dort, wo ein grundsätzliches Wohlwollen den anderen gegenüber vorhanden ist.
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