Gut gemeint ist das Gegenteil von gut!

Das Thema „Leitkultur“ beschäftigt wieder einmal Politik und Medien. Man muss kein Prophet sein, um vorauszusagen, dass dabei nichts rauskommen wird. Schade eigentlich!

von NEUES LAND

Letztes Wochenende fand eine Geschichte den Weg in die Medien, die durchaus mehr Interesse wecken sollte als ein einmaliges rasches Drüberlesen: Eine obersteirische Familie besuchte Graz und wollte den Abend mit ihren beiden Töchtern (acht und zehn Jahre alt) im Gastgarten einer Cocktailbar ausklingen lassen. Sie wurde aber gegen 20 Uhr aufgefordert, das Lokal zu verlassen, weil dort Kinder nicht erwünscht seien. Eine Cocktailbar, so wurde kolportiert, sei ein Nachtlokal und daher für Kinder ungeeignet, die betroffenen Eltern wiederum sollen von einer noch nie erlebten Kinderfeindlichkeit gesprochen haben. Wie es wirklich war, wissen wir nicht, das ist aber in unserem Zusammenhang auch gar nicht so wichtig!

Leitkultur

Möglicherweise hat die hier geschilderte Episode aus dem vornächtlichen Graz mehr Potenzial, wenn wir bereit sind, die hier indirekt aufgeworfenen Fragen möglichst emotionsfrei – und ohne für eine der beiden Seiten Partei zu ergreifen – zu erörtern. Zumindest vier solcher Fragen drängen sich unmittelbar auf, die auch für den Diskurs um eine Leitkultur Erkenntnis bringen können: Zuerst die nach den Regeln, nach denen wir miteinander umgehen wollen, dann die nach der Sinnhaftigkeit und den Grenzen eines „Hausrechts“, weiters die nach unserem Verständnis, Grenzen setzen zu dürfen, und last but not least die nach der Relevanz von Prinzipien in einer sich immer rascher verändernden Zeit.

Zur ersten Frage: Was wollen wir überhaupt regeln? Reicht unsere Rechtsordnung nicht aus? Gerade dieser Punkt wird von vielen Kritikern einer Leitkultur vertreten und das ist auch nicht vorschnell von der Hand zu weisen. Hat die Politik in Europa in den letzten Jahrzehnten nicht ohnehin vor allem bei ethisch und kulturell „heißen Eisen“ (Kreuze im öffentlichen Raum, assistierter Suizid, Minarette oder zuletzt auch Klimaschutz) ihren Entscheidungsspielraum bemerkenswert mutlos der Jurisdiktion überlassen? Auch wenn es sich niemand laut zu sagen getraut, die Folgen der Entscheidungen der europäischen Gerichtshöfe sind für unser Zusammenleben wahrscheinlich längst relevanter geworden als die europäischen Beschlüsse von Rat, Kommission und Parlament zusammen. Wir sollten uns darüber nicht wundern: In der Wahrnehmung der Öffentlichkeit werden Gerichtsentscheide ohnehin als weitaus verbindlicher wahrgenommen als politische Beschlüsse.

Wir ahnen aber auch, dass Rechtsordnungen allein nicht ausreichen, um ein geregeltes gutes Miteinander zu ermöglichen. Wo immer Menschen zusammenleben, gibt es informelle „Spielregeln“, man könnte und sollte hier eher von einer „Kultur des Zusammenlebens“ sprechen: Verantwortung, Respekt, Manieren, Toleranz und vieles mehr sind hier zu nennen. Nichts von dem lässt sich allein mit Gesetzen befriedigend regeln. Hier ist keine bevormundende Politik gefordert, sondern wir alle sollten uns wieder unserer Verpflichtung, Verantwortung für die Allgemeinheit zu übernehmen, besinnen.

Zur zweiten Frage: Das „Hausrecht“ mag im juristischen Sinn ein Privatrecht sein. Es gibt aber auch gute Gründe, dieses im Bereich der Integration gesellschaftlich wertzuschätzen. Es gibt auch ein Recht der Menschen, die sich an einem Ort seit langem und mit gutem Grund beheimatet fühlen, dass ihrer Lebenskultur mit großem Respekt begegnet wird. Wir ziehen uns als eingeladene Gäste schließlich auch gerne die Schuhe aus, wenn der Gastgeber das wünscht, ob im Privaten oder in einer Moschee.

Zur dritten Frage: Es besteht ein logischer Denkfehler, den viele – meist linke oder religiöse – Idealisten beim Thema Integration nicht wahrnehmen (wollen): Sie sprechen von den Chancen einer Bereicherung unseres Zusammenlebens durch Menschen verschiedenster Herkunft und fordern zugleich eine möglichst egalitäre Gesellschaft. Doch Fortschritt, insbesondere auch in kulturellen Belangen, braucht Ungleichheit, eine Auseinandersetzung über die Differenzen, letztlich sogar einen Wettbewerb um die „besseren Ideen“. Damit werden zwangsläufig Grenzen gezogen und an diesen Grenzen könnte dann auch sinnvoll über Leitkultur diskutiert werden. Wenn aber alles gleich gültig ist, wird auch alles gleichgültig.

Zur vierten Frage: Eine vielleicht übersehene Pointe an unserer Geschichte ist der Umstand, dass es sich bei der aus dem Lokal verwiesenen Familie um Steirer handelt. Es ist ja durchaus davon auszugehen, dass noch vor einer Generation das Besuchen einer Bar insbesondere hierzulande in der Tat ein völliges „No-Go“ war. Wer sich allerdings mittlerweile spät am Abend in Graz im öffentlichen Raum aufhält, kommt aus dem Staunen nicht heraus, wie viele kleine Kinder noch in erwachsener Begleitung unterwegs sind, hauptsächlich mit Migrationshintergrund. Auch das verändert unsere Kultur, ob wir es wahrhaben wollen oder nicht!

Gut gemeint?

Noch eine kleine Geschichte, ob wahr oder nur gut erfunden, kann an dieser Stelle nicht beantwortet werden. Als der beliebte und sangesfreudige Pfarrer Brei aus Vorarlberg in die Oststeiermark gekommen ist, soll er völlig erstaunt gewesen sein, wie er zum ersten Mal in seinem Leben vom ungemein populären „achten Sakrament“, der „Fleischweihe“, gehört hat. Regionale und volkskulturelle Traditionen – das lernen wir daraus – sind als Träger einer „Leitkultur“ wenig tauglich. Zugleich ist es auch gut nachvollziehbar, warum gerade vonseiten der Blasmusik dem ja wirklich unbeholfenen Versuch der Volkspartei, den Begriff Leitkultur als politische Kampfvokabel gegen ein Überhandnehmen des Fremden zu okkupieren, widersprochen wurde. Örtliche Blasmusikvereine sind, wie übrigens auch viele „kleine“ Sportvereine, oft gelungene Beispiele von Integration. Einheimische und Fremde „spielen“ hier in beiden Bedeutungen des Wortes sehr gut zusammen.

Angesichts dieser Überlegungen wird offensichtlich, dass es für die Sache selbst wenig förderlich ist, wenn ausgerechnet die Politik versucht, die Diskussion um eine Leitkultur an sich zu reißen. Das gilt für die Befürworter wie auch für die Gegner. Wenn beispielsweise die sozialistischen Studierenden der wenig geglückten Kampagne der Volkspartei zur Leitkultur damit begegnen, dass sie diese als „rassistisch, sexistisch, queerfeindlich“ denunzieren, beweist dies vor allem eines: Der Grundwasserspiegel der Intelligenz kann gar nie so tief sein, dass er nicht noch zu unterbieten wäre.

Rechte und Pflichten

Wir spüren, dass gerade angesichts der aktuellen und vielfältigen Verwerfungen in unserer Gesellschaft, die in diesen „Zeitdiagnosen“ immer wieder aufgegriffen werden, eine wie immer breit angenommene Akzeptanz für ein gelingendes Zusammenleben notwendig ist. Die Episode von der Familie mit den Kindern in der Bar ist wohl auch Abbild einer verschwindenden Gesprächsfähigkeit im öffentlichen Raum. Wenn Einsatzorganisationen zunehmend in ihrer Arbeit behindert werden, Fußballspiele regelmäßig in Hassduelle in den sozialen Medien und vor den Stadiontoren ausarten, Andersdenkenden schon präventiv das Recht auf Meinungsäußerung abgesprochen wird, haben wir längst ein Problem, das um vieles größer ist als zwei Kinder im falschen Lokal.

Regelmäßig wird darüber diskutiert, dass die Akzeptanz von Menschenrechten innerhalb der Gesellschaft vor allem auch davon abhänge, dass es zugleich „Menschenpflichten“ geben muss. Das ist durchaus nachvollziehbar und dennoch haben jene Juristen nicht nur formal recht, die darauf hinweisen, dass die Menschenrechte vorbedingungsfrei für alle zu gelten haben, denn die Würde des Menschen ist unteilbar. Anders formuliert: Menschenrechte sind Teil unserer Rechtsordnung, etwaige und durchaus sinnvolle „Menschenpflichten“ aber Teil unserer Kultur. Oder noch konkreter: Natürlich können wir Menschen, die die vielfältigen Segnungen unseres Sozialstaates genießen, dazu verpflichten, eine Gegenleistung für die Allgemeinheit zu erbringen, aber wir dürfen ihre Leben nicht durch unterlassene Hilfe in Gefahr bringen.

Grundsätzlich und zusammenfassend formuliert: „Leitkultur“, die einen sinnvollen Beitrag zum Zusammenleben der Menschen beitragen will, kann weder verordnet, schon gar nicht politisch beschlossen, noch von der Zuschauertribüne herab lautstark eingefordert werden. Sie muss sich viel mehr aus dem Zusammenleben der Menschen selbst heraus entwickeln und als gesellschaftliche Verpflichtung und Verantwortung gelebt werden. Das war, genau genommen, schon immer mühsam, spätestens ab dem Zeitpunkt, als wir Demokraten geworden sind. Und das soll sich wohl nicht ändern!

Natürlich mag es für viele – und völlig zurecht – unerträglich sein, wenn sich Männer aus anderen Kulturkreisen weigern, einer Frau die Hand zu geben. Dieser Punkt wird ja aktuell immer als Beispiel herangezogen, aber welche Konsequenzen können daraus gezogen werden? Eine gesetzliche Verpflichtung – wohl kaum! Und wer hier nach Abschieben ruft, sollte zumindest sich selbst gegenüber so ehrlich sein, dass dieser Wunsch einer weitaus grundsätzlicheren Ablehnung entspringt als einem Unbehagen gegenüber einem verweigerten Handschlag.

Ja, gut gemeint ist eben nur selten wirklich gut. Das gilt auch für die Debatte um eine Leitkultur.

Erschienen im Rahmen der Serie ZEITDIAGNOSEN von Hans Putzer.

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