Wallfahrten oder Pilgerreisen haben seit der Antike nur wenig von ihrer Faszination eingebüßt. War es im alten Griechenland üblich, vor einer wichtigen Entscheidung wie Krieg oder Heirat den Ratschluss im Tempel einer „zuständigen“ Gottheit einzuholen, so pilgerten im frühen Mittelalter Christen aus ganz Europa zu den heiligen Stätten Jerusalem oder Rom. Zu Beginn der Neuzeit entstanden in allen Ländern der Weltreligionen Wallfahrtszentren, die heute noch alljährlich Millionen von Menschen anlocken. Wallfahrten oder Pilgerreisen haben dieselbe Bedeutung: mit einem Fußmarsch oder einer Fahrt zu einem entfernten Heiligtum Heil erlangen.
Klassische christliche Pilgerreisen
Aus dem Mittelalter sind uns erste gesicherte Berichte über Pilgerreisen überliefert. Es begann mit den Jerusalem-Pilgern im Mittelalter. Männer, die es sich leisten konnten, pilgerten zu Fuß, auf Schiffen und Eseln in das Heilige Land, um auf dem Ölberg niederzuknien und eine Andacht zu verrichten. Meist erfüllten sie ein Gelübde oder taten Buße für eine schwere Sünde. Die Wallfahrt sollte asketischen Charakter haben, mit langen mühseligen Märschen von einem Nachtlager zum nächsten. Nur das Allernotwendigste war mitzunehmen.
Interessant ist, dass sich schon die frühesten Wallfahrer an eine inoffizielle Kleidungsvorschrift hielten, die ihnen der Apostel Jakobus der Ältere unbeabsichtigt vorgegeben hatte. Der Jünger Jesu nahm sich vor, Spanien zu missionieren und kam bis in die damals römische Provinz Galizien. Bald danach kehrte er nach Jerusalem zurück, wo er im Jahr 44 enthauptet wurde. Im 7. Jahrhundert brachten Anhänger des heiligen Jakobus seine Gebeine in das heutige Santiago de Compostela, das im 11. Jahrhundert neben Jerusalem und Rom zum bedeutendsten Wallfahrtsort aufstieg.
Jakobus soll bei seinen Missionsreisen einen langen Mantel und einen großen Hut getragen haben, auf dem eine Wandermuschel angenäht war. Ein hoher Pilgerstab diente ihm als „drittes Bein“. Auf dem Stab hing ein ausgehöhlter Kürbis als Wasserflasche. In ähnlicher Form blieb diese „Uniform“ bis in das 19. Jahrhundert erhalten, nur erhielt der Stock eine Stahlspitze zur Abwehr von Hunden und Räubern. Fernreisen waren im Mittelalter gefährlich, viele Wallfahrer sahen die Heimat nicht mehr.
Der Schatz der Stubenberger
Mit dem Aufkommen der Kreuzzüge im 11. Jahrhundert konnten sich die Jerusalem-Pilger den Rittern anschließen. Dies war auch der Inhalt für die steirische Sage „Der Schatz der Stubenberger“: Zur Zeit der Kreuzzüge hausten zwei Ritter vom Geschlecht der Stubenberger auf ihrer Burg Stubegg auf der Nordseite des Schöckels. Als der Kaiser einen Kreuzzug in das Heilige Land ausrief, schlossen sie sich den Kreuzrittern an. Zuvor jedoch versteckten sie ihre Schätze in einer Truhe in einer schwer zugänglichen Höhle und verschlossen den Eingang mit einer Eisentür, die sie mit Steinen und Gestrüpp tarnten. Die Schlüssel zur Truhe und zur Eisentür nahmen sie mit. Im Jahr darauf tauchte ein Pilger, der mit den Rittern nach Jerusalem mitgezogen war, beim Stubegger Burgvogt auf und gab ihm zwei Schlüssel. Die beiden Stubenberger waren im Kampf mit den Heiden gefallen, im Sterben gab ihm einer die Schlüssel zur Schatzhöhle. Sofort machte sich der Vogt mit seinen Getreuen und dem Pilger auf die Suche nach der Höhle im Schöckelwald, fanden sie aber nicht. Mit den Jahren wurde die Sache allmählich vergessen.
Hundert Jahre danach hatte ein Bauer namens Georg Geßgruber, der am Abhang des Schöckels ärmlich hauste, ein eigentümliches Erlebnis. Beim Holzklauben erschien ihm der Teufel in der Gestalt eines Kindes mit glühenden Augen, das ihn zur Schatzhöhle führte und ihm auch die Schlüssel aushändigte. Dem Bauern erklärte es, dass er sich jeden Tag hierher begeben könnte, um sich eine Handvoll Gold zu holen, was der Bauer auch machte. Er durfte aber niemanden sein Geheimnis verraten, sonst würde es ihm schlecht ergehen. So kam Geßgruber zu Wohlstand, kaufte sich Äcker und Wälder, erweckte allerdings den Neid seiner Nachbarn. Auch ein Nachkomme der Stubenberger wurde auf den neureichen Bauern aufmerksam. Er ließ ihn verhaften und verhörte ihn. Unter der Folter gestand ihm der Bauer, wem er sein Vermögen verdankte. Wie hundert Jahre zuvor brach ein Suchtrupp mit dem Bauern in die Waldwildnis auf. Als sie zu der Stelle kamen, wo die Höhle sein sollte, fanden sie nur mehr Geröll und umgestürzte Bäume vor. Noch viele Jahre wurde nach der sagenhaften Schatzhöhle gesucht, sie blieb jedoch bis heute verborgen.
Die „Große Mutter Österreichs“
An einem Dezembertag des Jahres 1157 schlug die Stunde für den Ort Mariazell. Ein Benediktinermönch aus St. Lambrecht erschien im Zellertal mit einer aus Lindenholz geschnitzten Marienstatue. Damals konnte noch niemand ahnen, dass aus dieser eher unscheinbar wirkenden Statue die „Große Mutter Österreichs“ werden sollte. Die Verehrung der Gnadenstatue, für die man eine Kapelle baute, wuchs immens an, nachdem Kranke, die hierhergekommen waren und die Statue berührt hatten, Heilung erfuhren. Anstelle der Kapelle wurde eine Kirche errichtet, die nun als Basilika eine der bedeutendsten Wallfahrtszentren Europas ist. Mit dem Ausbau des Eisenbahnnetzes setzte ein regelrechter Massentourismus nach Mariazell ein. Aus allen Ländern der Monarchie kamen Gläubige in der Hoffnung, gesund zu werden oder für gewährte Gnaden zu danken.
Nach der Einnahme Jerusalems durch muslimische Heere im 11. Jahrhundert wurde Rom als Wallfahrtszentrum immer bedeutender, insbesondere durch Bußwallfahrten zu den Gräbern der Apostel Petrus und Paulus oder gar zum Papst. Bei einer Audienz ging es meistens um die Lossprechung von einer Todsünde, wie im Fall des Ritters Tannhäuser, des berühmtesten Rom-Pilgers. Nach etwa 1600 vollzog sich ein Wandel im Wallfahrerwesen. Bußwallfahrten gingen zurück, hingegen nahmen Bitt- und Dankeswallfahrten auf Grund der Pestepidemien und der Türkengefahr eklatant zu.
Dankwallfahrten wegen der Pest
In der Steiermark geschah es mehrmals, dass die Pest erlosch, nachdem die Bürgerschaft eine Wallfahrt unternommen hatte. So geschehen in Eibiswald im Pestjahr 1635 und im Jahr 1678 in der Pfarre Stallhof.1 Die Eibiswalder pilgerten nach Maria Lankowitz, die Stallhofener nach Maria Osterwitz. Dabei fällt uns auf, dass die Stallhofener nach Maria Lankowitz viel näher gehabt hätten und die Eibiswalder nach Maria Osterwitz auch. Jedoch lautete die Volksmeinung jener Zeit: Je größer das Opfer, desto eher die Erhörung. Außerdem hatte der Marsch zu einem Heiligtum mindestens zwei Tage zu dauern. Übernachtet wurde fast immer bei einem großen Bauernhof in dessen Wirtschaftsgebäuden. Bei derartigen Massenaufmärschen wurden immer zwei oder drei Esel für krankgewordene Personen mitgeführt, Pferde waren verpönt. In einigen Orten der Steiermark mussten Pestwallfahrten unterbleiben, weil die Behörden eine weitere Ausbreitung der Seuche befürchteten.
Manchmal kam es vor, dass eine Wallfahrt noch viele Jahre zu einem bestimmten Tag weiter unternommen wurde, obwohl der ursprüngliche Anlass längst vergessen war. So stand noch im Jahr 1916 zwischen dem Sölktal und Donnersbachwald auf einer Alm das Bergkreuz, zu dem die Ennstaler Bauern alljährlich zu Jakobi am 25. Juli pilgerten.2 Aus der Überlieferung wusste man nur, dass es an einen Türkeneinfall erinnern sollte, mehr nicht.
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wuchs das Wallfahrerwesen zu einem Massenphänomen an, das neue Probleme schaffte. An manchen Feiertagen war der Ansturm auf den Grazer Kalvarienberg so groß, dass die Geistlichkeit bei weitem überfordert war. Auch mischten sich unter die Menge der Wallfahrer immer wieder solche, denen es weniger um die Andacht, sondern viel mehr um das Opfergeld der Gläubigen ging.
Verbot von Wallfahrten
Im Zuge seiner Staatsreform verbat Kaiser Joseph II die großen Wallfahrten nach Mariazell, indem er 1786 das Stift St. Lambrecht, unter dessen Leitung Mariazell stand, aufhob. Danach kamen die Wallfahrten beinahe zum Erliegen. Der Kaiser ließ sich von wirtschaftlichen Überlegungen leiten, denn durch die Wallfahrten gingen in jedem Kronland Tausende wertvolle Arbeitstage verloren. 1798 wurde die Verfügung aufgehoben und die Wallfahrt nach Mariazell nahm wieder Fahrt auf, und zwar wegen der Bedeutung von Mariazell für die Monarchie. Beinahe alle Fürsten aus dem Hause Habsburg hatten die Basilika Mariazell besucht vor dem Hauptaltar für das „Haus Österreich“ gebetet, und ein wenig Volksfrömmigkeit wollte man den Untertanen belassen.
Aus der Zeit des Wallfahrtsverbotes stammt die folgende Anekdote: Als 1788 wieder ein Türkenkrieg ausbrach, tauchte Kaiser Joseph II überraschend mit kleinem Gefolge in Mariazell auf und sah sich im Kirchenraum um. Sofort entstand das Gerücht, der Kaiser werde die Wallfahrten wieder erlauben. Er aber sagte: „Die Leute irren sich. Ich sorge mich um die schönen Edelseine und die großen silbernen Kannen. Ich habe gelesen, dass die Türken einmal bis hierhergekommen sind, um zu plündern, aber da sie vor das Gnadenbild traten, sind sie blind geworden. Ich fürchte, die Türken könnten jetzt mit besseren Augen kommen.“3
1) „Marianische Jahrbuch zu Lankowitz“, 1714, „Die Pest höret auf einmal auf“ und Ernst Lasnik, Chronik von Stallhof, „Die Wallfahrt der Stallhofener nach Maria Osterwitz“. Die Stallhofener Wallfahrt gibt es noch heute.
2) Karl Reiterer, Altsteirisches, Graz 1916, S. 8.
3) Tagespost, 19. 12. 1877, „Joseph II“.