„Letzte Generationen“ und „Weltuntergänge“ gehörten schon immer zur europäischen Geschichte. Hoffnung und Horror sind deren Taktgeber. Ein Beitrag von Hans Putzer.
Vorweg zwei Nachrichten aus dem letzten Monat: In Hamburg läuft am 9. März ein Mitglied der „Zeugen Jehovas“ in deren Gemeindehaus im Stadtteil Alstersdorf Amok und ermordet sieben Menschen, vier Männer, zwei Frauen und ein Ungeborenes im siebenten Schwangerschaftsmonat. Danach richtet es sich selbst. Darf man der ebenfalls in Hamburg erscheinenden renommierten Wochenzeitung „DIE ZEIT“ Glauben schenken, so hat der Täter seine Tat zwar nicht ausdrücklich angekündigt, aber sein krudes Weltbild kann in einem kurz zuvor veröffentlichten Buch nachgelesen werden: Satan regiere die Welt, das Weltgericht des „Jüngsten Tages“ – „Armageddon“ – sei nahe, es müsse nun wohl herbeigeführt werden.
Szenenwechsel: Ende März verkündet die Theologische Fakultät der Universität Helsinki, dass Greta Thunberg, die weltweit wohl bekannteste Klimaschutzaktivistin, für ihren „kompromisslosen und konsequenten“ Einsatz mit dem Ehrendoktortitel ausgezeichnet wird. Die Verleihung soll im Juni stattfinden. Übrigens genau in diesem Monat, so hat Thunberg vor fünf Jahren gepostet, sollte die gesamte Menschheit ausgelöscht sein, wenn es in Sachen Klimaschutz nicht zu einer völligen Umkehr gekommen sei. Nun, von dieser Wende ist – auch bedauerlicherweise – nicht viel zu erkennen und Thunberg hat diesen Twitter-Eintrag inzwischen gelöscht.
So unterschiedlich sie auch auf dem ersten Blick sein mögen, haben beide Geschichten eines gemeinsam: Religion. So absurd es auch erscheinen mag, dass ausgerechnet eine Theologische Fakultät hier auf akademischem Boden vorprescht, und man kann auch mit guten Gründen, ohne damit eine Abwertung verbinden zu wollen, die „Zeugen Jehovas“ nicht gerade als Mainstream in der christlich-abendländischen Ideengeschichte verorten, apokalyptisches Denken, Argumentieren und Handeln ist wieder in der Mitte unserer eben nur vermeintlich säkularen Welt angekommen. Die immerwährend aktuelle Frage nach einer lebenswerten Zukunft droht zu einer Glaubensfrage zu verkommen.
Letzte Generation
Ungeachtet dessen sollten wir die Aktivistinnen und Aktivisten der „Letzten Generation“ ernstnehmen. Natürlich ist die Selbsteinschätzung, am Ende der Menschheitsgeschichte angekommen zu sein, mehr Alarmismus als Realität. Und natürlich ist das Ankleben auf der Straße der eigentlichen Sache wenig dienlich, ganz im Gegenteil: Hier wird zusätzliches CO2 generiert. Aber diese Gruppe ist ernst zu nehmen, weil sie es ernst meint und ihr Anliegen einmal ganz ungeachtet ihrer Vorgangsweisen ein ernstes ist.
Ernstnehmen bedeutet vor allem, die „Letzte Generation“ in einen größeren historischen Zusammenhang zu stellen. Es wäre ein leichtes, die weiteren Spalten dieser „Zeitdiagnose“ mit Beispielen von Endzeitprophezeiungen zu füllen: von der, den nicht mehr bestellten Feldern geschuldeten Versorgungskrise im Jahr 1000, weil die Christenheit das Ende der Tage erwartet hat, bis zum Weltuntergang im Maya-Kalender am 21. Dezember 2012.
Ein besonders interessantes Beispiel ist das Erdbeben von Lissabon am 1. November 1755. Rund 100.000 Menschen haben hier infolge der Erdstöße, des davon ausgelösten Tsunamis und der folgenden Brände ihr Leben verloren. Es war dies die erste Naturkatastrophe, die europaweit wahrgenommen wurde und welche die Theologen, Philosophen und Naturwissenschaftler zu umfangreichen Analysen verleitet hat. Ausgerechnet am Allerheiligentag im erzkatholischen Portugal habe Gott die Stadt bestraft, mehr noch: Während die Kirchen mehrheitlich zerstört wurden, blieb das lasterhafte Huren- und Hafenviertel vergleichsweise wenig betroffen.
Dieses Ereignis hat aber Europa auch geistesgeschichtlich nachhaltig geprägt. Letztlich haben nach diesem 1. November innerweltliche Erklärungsmodelle gegenüber den kirchlichen Deutungen den Vorrang errungen. Wie hat der protestantische Theologe, Mediziner und Ethiker Ulrich Körtner erst kürzlich in einem Ö1-Feature gemeint, entscheidend sei in solchen zugespitzten Zeiten immer die Frage, wer die „Macht über die Erzählung“ habe. Oder mit den Worten des deutschen Staatsrechtlers Carl Schmitt: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“ Schmitts Verstrickung im Nationalsozialismus sollte uns hier mehr als nur eine Warnung sein.
Neues Testament
Als letztes der 27 Bücher wurde die „Geheime Offenbarung des Johannes“, die „Apokalypse“ in den Kanon des Neuen Testaments aufgenommen. Sie schildert in eindrucksvollen und zugleich erschreckenden Bildern von den sogenannten „letzten Dingen“, vom Gericht Gottes. Der Tag des göttlichen Zorns – „dies irae“ – geht der endgültigen Erlösung – oder eben Verdammnis – der Menschheit voran.
Unsere Kulturgeschichte ist voll von Auseinandersetzungen mit diesem Buch. Erinnert sei hier nur an Cormac McCarthy’s Roman „Die Straße“, an Herbert Boeckls Fresko in der Engelkapelle in Seckau, an Franz Schmidts Oratorium „Das Buch mit sieben Siegeln“ oder auch an „Katstrophenfilme“ wie „Armageddon“ oder das Kriegsdrama „Apocalypse Now“.
Apokalyptische Reiter
Eine entscheidende Rolle im biblischen Text spielen die „vier apokalyptischen Reiter“, die als Bedrohungsszenarien und als Zeichen für das bevorstehende Ende auftreten. Sie stehen für Pest, Krieg, Hunger und Tod. Und sie sind sehr einfach in die Apokalyptik der Gegenwart zu übersetzen: Klima, Krankheit, Krieg und Klassenkampf. Ihre Argumente sind zumindest bei den ersten drei „Reitern“ klar und wohl auch für die meisten nachvollziehbar. Das sind der menschlich verursachte Klimawandel, die Corona-Pandemie und der russische Krieg gegen die Ukraine, der täglich mehr auch zu einer Herausforderung für uns alle wird.
Wer aber genau hinhört, wird in diesem Zusammenhang auch immer öfter den Kapitalismus als „Ursünde“ für all die damit verbundenen Entwicklungen vernehmen. Erst unlängst wurde im Ö1-Sachbuchmagazin „Kontext“ das Buch „Radikale Inklusion“ von Hannah Wahl vorgestellt, dessen zentrale Botschaft lautet: Der Kapitalismus verhindere die Inklusion Benachteiligter, welcher Art auch immer. Man möchte meinen, erst eine wachsende sozial verantwortungsvolle Wirtschaft schaffe die Bedingungen, um konkret helfen zu können. Wie auch immer.
Entweder – oder!
Bitte nicht schrecken: An dieser Stelle muss kurz ein etwas sperriger Begriff eingeführt werden: „Manichäismus“. Darunter versteht man eine „dualistische“ Denkweise der Antike, die vorübergehend auch im Christentum eine nicht unbedeutende Rolle gespielt hat. Sie unterscheidet radikal zwischen beispielswiese Gut und Böse oder Geist und Materie. Es gibt nur Schwarz und Weiß, keine Grautöne. Das apokalyptische Denken ist bis heute von diesem Dualismus geprägt.
Erstens: Apokalyptisches Denken ist vom Anspruch geprägt, es immer und überall besser zu wissen. Wer beispielsweise in Fragen der Klimapolitik nicht der Greta Thunberg-Friday for future-Last Generation-Linie folgt und beispielsweise auf technologische Konzepte setzt, wird sofort als Klimaleugner denunziert. Bundeskanzler Nehammer weiß davon ein Lied zu singen. Streitbare wissenschaftliche Publikationen wie „Apocalypse no!“ von Björn Lomberg vor vielen Jahren oder aktuell „Apocalypse, never“ von Michael Shellenberger werden mit einem Federstrich weggewischt. Nicht, dass hier nicht vieles auch diskussionswürdig wäre, aber was erschreckt, ist die völlige Ablehnung jeglicher „unpassender“ Meinung.
Zweitens: Apokalyptisches Denken stellt das Moralisieren vor das Argumentieren. Es gäbe auch keine Zeit mehr zum Verhandeln. Entweder ist man bei den Guten oder eben bei den Bösen. Der moralische Anspruch rechtfertigt alle Mittel. Nicht mehr der demokratisch verfasste und in Gesetzen gegossene Rechtsstaat ist die letztgültige Instanz. Dazu gehört – wie schon immer in der Geschichte der Apokalyptiker – der bewusste Einsatz von Kindern. Wer jemals das oft hysterische Geschrei selbst von aufgehetzten Volksschulkindern bei Klimademonstrationen erlebt hat, wird an dunkelste Kapitel der Menschheitsgeschichte erinnert, die hier namentlich zu erwähnen der Anstand verbietet. Eine Abrüstung der Worte, übrigens auf beiden Seiten, ist höchst überfällig. Wer sich auf der Straße festklebt, ist genauso wenig ein Terrorist wie nicht jeder, der mögliche Lösungen der Herausforderungen des Klimawandels etwas offener zu denken bereit ist als die „Letzte Generation“ und deshalb nicht gleich ein Klimawandelleugner sein muss.
Drittens: Apokalyptisches Denken nimmt den Menschen die individuelle Freiheit. Bevormundungspolitik ist ein unverwechselbares Erkennungszeichen aller Apokalyptiker. Einer Generation, die wie selbstverständlich die drei großen individuellen Freiheitsversprechen der Moderne – Konsum, Mobilität und Selbstermächtigung – leben durfte, ohne den damit verbundenen Fortschritt konkret zu erfahren, ist das Bewusstsein für eine freie liberale Gesellschaft verloren gegangen. Man darf sich daher auch nicht wundern, dass es gerade auch kirchliche Aktivistinnen und Aktivisten sind, die sich hier das Bevormunden mit besonders ausgeprägtem Eifer auf ihre Fahnen geheftet haben.
Viertens: Apokalyptisches Denken ist somit auch ein Konzept zur Deutung der Geschichte, das nur mehr zwischen Heil und Unheil zu unterscheiden vermag. Goethes aufklärerisches Credo „Ein guter Mensch in seinem dunklen Drange ist sich des rechten Weges wohl bewusst,“ scheint vergessen zu sein. An seine Stelle sind wiederum die alten, aber nicht guten apokalyptischen Drohungen getreten.
Bloß kann dieser Vergleich heutiger Endzeitpropheten mit der biblischen Tradition so einfach gezogen werden? Ist es nicht viel mehr so, dass das hoffnungsreiche Bild des Johannes vom neuen Himmel und von der neuen Erde mit der vermeintlich hoffnungslosen Endzeitstimmung von heute ohnehin nichts zu tun hat? Nein, und damit kommen wir noch einmal zum vierten apokalyptischen Reiter: Das neue sozialistische Paradies, das versprochen wird, ist genau genommen ein sehr altes: eine Gesellschaft ohne Wachstum, Leistung und Kapital.
Aufklärung war gestern, Apokalypse ist heute!
Beitragsfoto: chaiaprueck – stock.adobe.com