Wolfgang Schäuble, Festredner im wiederbezogenen „Hohen Haus“, und der Liedermacher Georg Danzer sind sich vielleicht ähnlicher als viele glauben. Eine „Zeitdiagnose“ von Hans Putzer.
Eines ist wohl allen im Parlament vertretenen Parteien nicht abzusprechen: ein gewisses Unbehagen über die Art und Weise, wie man im Wettbewerb um die Gunst der Wählerinnen und Wähler, aber auch bei der Verwirklichung der jeweiligen eigenen politischen Ziele miteinander umgeht. Dass das eine und das andere nur allzu oft so gar nicht zusammenpassen, mag auch ein nicht geringer Teil dieses Problems sein; aber das nur am Rande.
So war die Feierstunde zur Rückkehr der Abgeordneten ins Parlamentsgebäude am Ring wenig überraschend auch von allseitigen Lippenbekenntnissen für eine künftig bessere politische Kultur geprägt. Lassen wir uns – im wahrsten Sinn des Wortes – überraschen. Bloß gilt auch für die Politik die eherne Regel: Wer sich wirklich und tiefgehend ändern will, muss erstens bei sich selbst beginnen und zweitens die Bereitschaft haben, sein Denken und seine Sicht auf die Welt grundsätzlich zu überdenken. Und auch dafür gibt es wiederum eine unerlässliche Voraussetzung: die Fähigkeit zuhören zu können.
Die Festrede von Wolfgang Schäuble, Präsident des Deutschen Bundestages zwischen 2017 und 2021, wäre eine solche Chance zum Weiterdenken gewesen. Besondere Aufmerksamkeit verdient seine Formulierung: „Politik lässt sich nicht durch Moral ersetzen.“ Natürlich mag diese Feststellung auch eine Anspielung auf die aktuelle österreichische Innenpolitik sein, doch das ist zu kurz gedacht. Gerade deutsche Bundestagspräsidentinnen und -präsidenten – man erinnere sich nur an Rita Süssmuth (CDU) oder Wolfgang Thierse (SPD) – beweisen in ihren öffentlichen Stellungnahmen und Grundsatzreden nicht nur ihr stets beeindruckendes Reflexionsvermögen, sondern auch eine profunde Kenntnis in Sachen Politikwissenschaft.
Gouvernantenpolitik
Zum einen kritisiert hier Schäuble eine Entwicklung, die mit den Schlagworten „Bevormundungspolitik“ oder auch „Gouvernantenpolitik“ seit längerem gesellschaftspolitisch intensiv diskutiert wird. Vor allem links-grüne und am rechten Rand stehende Parteien tun sich hier besonders hervor. Mit dem Anspruch auf moralische Überlegenheit werden Positionen verabsolutiert und somit aus dem demokratischen Diskursrahmen genommen. So hat beispielsweise Annalena Baerbock, die grüne Bundesaußenministerin Deutschlands, in einer Podiumsdiskussion in Prag gemeint, sie werde an ihrer Ukrainepolitik unbeirrt festhalten, „egal, was meine deutschen Wähler denken“. Unabhängig davon, ob man diese Politik inhaltlich für richtig hält oder nicht, der moralisierende Absolutheitsanspruch, der damit erhoben wird, ist unerträglich. Wer moralische Urteile an die die Stelle demokratischer Regeln stellt, gefährdet das größere Ganze. Das ist wohl auch das Unbehagen, das eine große Mehrheit angesichts der sogenannten „Klimakleber“ hat, obwohl innerhalb dieser Mehrheit bestimmt wiederum ein Großteil das Anliegen, gegen den Klimawandel aktiv zu werden, unterstützt. Demokratie braucht eben die Mühen des Ausverhandelns und nicht die Moral der Besserwisser.
Gesinnungs- und Verantwortungsethik
Es ist auch davon auszugehen, dass Wolfgang Schäuble bei seiner Kritik Max Weber und seinen Vortrag „Politik als Beruf“ von 1919 im Hinterkopf gehabt hat. Es ist hier nicht der Ort, die zeitlose Aktualität dieses Textes weiter zu vertiefen, wohl aber auf einen zentralen Gedanken einzugehen: Weber unterscheidet sehr deutlich zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik: „Nicht, dass Gesinnungsethik mit Verantwortungslosigkeit und Verantwortungsethik mit Gesinnungslosigkeit identisch wäre.“ Aber es sei „ein abgrundtiefer Gegensatz“ zwischen beiden. Wer idealistisch unter Missachtung menschlicher Unzulänglichkeiten nur nach seiner Gesinnung handelt, macht sich immun gegenüber jeder Kritik, wer aber politische Verantwortung ernst nimmt, muss sich in seinen Entscheidungen an den zu erwartenden Auswirkungen orientieren. Am Beispiel Klimawandel: Letztlich müssen wir uns – bedauerlicher- und realistischerweise – eingestehen, dass alle bisherigen Versuche, hier wirksam gegenzusteuern, insbesondere auch die Bemühungen der Politik, nur von wenig Erfolg gekennzeichnet waren. Das gibt zwar den „Klimaaktivisten“ und ihrer „reinen Gesinnung“ – um noch einmal eine Formulierung Webers aufzugreifen – recht, doch es ändert nichts Signifikantes an dieser Entwicklung. Müsste „politische Verantwortung“ daher nicht schon längst bedeuten, unsere Mittel und geistigen Energien vor allem in Strategien zu investieren, wie wir künftig bestmöglich mit dem Klimawandel leben können? Also fragen wird man wohl noch dürfen?
Politik lässt sich nicht durch Moral ersetzen. Zumindest vier gute Gründe sprechen dafür, dass Schäuble mit dieser These richtig liegt:
Moralismus gefährdet das Recht auf freie Meinungsäußerung: „Cancel Culture“ – eine Kultur (?) des Abkanzelns – greift in erschreckendem Ausmaß um sich. Wer die „falschen“ Wörter verwendet, wird sozial geächtet und vom öffentlichen Diskurs ausgeschlossen. „Friday for future“ haben in Deutschland einer Sängerin einen Auftritt verwehrt, weil sie mit ihren „Rastalocken“ einen Akt „kultureller Aneignung“ gesetzt habe, und damit der jamaikanischen Kultur gegenüber nicht genügend „woke“ (wachsam) war. Eine US-amerikanische Universität hat die Antike aus ihrem Lehrplan genommen, denn in dieser hätte die kolonialistisch-weiße Unterdrückung anderer Völker begonnen. Und in Berlin durfte eine Biologin an der Universität nicht sprechen, weil sie der Meinung ist, dass es nur zwei Geschlechter gäbe. Natürlich kann und muss man über all das diskutieren; aber eben diskutieren, nicht den Mund verbieten.
Moralismus gefährdet das Prinzip der Unschuldsvermutung: Moralische Urteile haben eine lange Tradition in antidemokratischen Gesellschaftsordnungen. Ob man zur richtigen Klasse oder zu richtigen Rasse gehörte, hat oft über Leben und Tod entschieden. Auch der richtige Glaube war die meiste Zeit hindurch durchaus „hilfreich“. Wer Menschen dogmatisch in „gut“ und „böse“ teilt, nimmt letztlich allen ihre Würde.
Moralismus gefährdet das Recht auf gleiche Behandlung: Ein kurzer Blick in die Geschichte: Der Christlichsoziale Karl Lueger, Wiens Bürgermeister in der Monarchie, und der Sozialdemokrat Julius Tandler, Gesundheitsstadtrat im „Roten Wien“ der Zwischenkriegszeit, haben sich – zumindest darauf sollte man sich einigen können – große Verdienste für die Entwicklung ihrer Stadt erworben. Zugleich wissen wir um Luegers unerträglichen Antisemitismus wie auch um Tandlers Bekenntnis zur Vernichtung „unwerten Lebens“. Letztlich haben beide damit nationalsozialistisches Gedankengut vorweggenommen. Doch während Lueger seit Jahrzehnten der Gottseibeiuns linker Moralpolitik ist, gilt Tandler unverändert als sozialpolitisches Vorbild.
Moralismus fördert Scheinheiligkeit: In der Stadt Graz hat man begonnen, sogenannte „belastete“ Straßennamen zu ändern. Als erster musste Max Mell daran glauben. In fast schon entwaffnender Ehrlichkeit begründeten die so verhaltensauffällig aktiven Grünen dies unter anderem mit dem Hinweis, dass hier auch die Kürze dieser nach Mell benannten Allee ein Grund sei. Was war Mells „Verbrechen“? Er hat sich wie viele andere in opportunistischer Weise zum Anschluss an Hitler-Deutschland bekannt. Das muss man zurecht kritisieren. Bloß Mell war den meisten führenden Nazis zutiefst verhasst, er galt als unverlässlicher, katholischer „Ständestaatdichter“, bei seinen Lesungen wurden von Hitlerjungen Stinkbomben geworfen und er wurde zudem Jahre nach dem Krieg von der Republik Österreich hochrangig ausgezeichnet. Wie wusste schon Helmut Qualtinger: „Moralische Entrüstung ist der Heiligenschein der Scheinheiligen.“
Spießbürger
Schlusspunkt: Manche werden sich noch daran erinnern, wie man früher jene Menschen genannt hat, die gerne mit dem moralischen Zeigefinger auf andere hinuntergeschaut haben: „Spießer“ oder „Spießbürger“. Doch der Weg von diesem Zeigefinger zum in die Luft gestreckten Mittelfinger ist ohnehin nur ein äußerst kurzer, oder wie hat Georg Danzer schon in seinem Lied „Jö schau“ gemeint, nachdem sich die selbsternannte Schickeria im Café Hawelka über einen unerwünschten, weil „nackerten“ Gast echauffieren musste: „Pfeift auf Spießbürgermoral!“
Beitragsfotos: Zinner (2), Buchner