Wir können wohl mit guten Gründen davon ausgehen, dass die Nominierung der Fridays-for-future-Klimaaktivistin Lena Schilling als Spitzenkandidatin der „Grünen“ für die Wahlen zum Europäischen Parlament auf lange Sicht kein politisch relevantes Ereignis darstellen wird. Brüssel und Straßburg werden künftig größere Aufgaben zu bewältigen haben, als sich mit grüner Girlie-Power zu beschäftigen. Aber gerade angesichts der mutmaßlich bescheidenen Folgewirkungen ist Schilling aus zumindest vier Gründen beispielhaft dafür, wohin sich die Politik – und somit natürlich auch die Demokratie – in den letzten Jahren entwickelt hat. Und das ist höchst bedenklich!
Erstens: Aus Sicht der Grünen ist Schilling wahltaktisch rasch nachvollziehbar. Während ÖVP (Reinhold Lopatka, 64), SPÖ (Andreas Schieder, 55), FPÖ (Harald Vilimsky, 57) und die NEOS (Helmut Brandstetter, 69) mit älteren, man könnte wohlmeinend auch von erfahrenen Männern sprechen, in die Wahl ziehen, setzt „Grün“ auf jung (Schilling ist gerade einmal 23) und weiblich. Alleinstellungsmerkmale sind in Wettbewerbssituationen immer ein potenzieller Vorteil.
Zweitens: Dass die Grünen aktuell beim österreichischen Wahlvolk nicht gerade mit wachsendem Zuspruch gesegnet sind, bestätigen so ziemlich alle Umfragen. So sind sie wieder am besten (?) Weg, als Single-Issue-Partei, die ausschließlich auf ein Thema setzt, wahrgenommen zu werden. Dies ist nun schon längere Zeit der Klimaschutz oder, genauer gesagt, jene reduzierte Vorstellung von Klimapolitik, die nur ein einziges Lösungsmodell akzeptieren will und kann. In Wahlbewegungen eröffnet das allerdings die Chance, die Unterstützer dieser Politik möglichst vollständig zur Wahlurne zu bringen.
Drittens: Lena Schilling, vielen auch als Kolumnistin der auflagestärksten österreichischen Tageszeitung („Krone“) bekannt, wird nicht müde, ständig, ob gefragt oder ungefragt, darauf hinzuweisen, dass sie selbstverständlich nicht Mitglied der Grünen sei und sich – nicht weniger selbstverständlich – auch weiterhin ihre eigene Meinung nicht nehmen lassen werde.
Viertens: Beim Nominierungskongress ließ Schilling zudem keinen Zweifel daran, dass es neben der (zumindest von ihr und ihresgleichen alternativlos) herbeigeredeten Klimakatastrophe noch eine zweite, ähnlich apokalyptische Bedrohung zu bekämpfen gelte: die „Rechten“.
Noch einmal: Lena Schillings Erfolg oder Misserfolg bei den Europawahlen im Juni 2024, wir werden es sehen, wird den Lauf unserer Welt, wenn überhaupt, kaum beeinflussen. Aber ihre Geschichte ist paradigmatisch – und das nun allerdings weit über die Grünen hinaus und daher höchst relevant – für den prekären Zustand der Demokratie in unserer Zeit.
Herrschaft des Volkes?
Bevor wir auf die vier genannten Punkte zurückkommen, einige wenige grundsätzliche Überlegungen zu den notwendigen Voraussetzungen für das Gelingen von Demokratien: In einer der letzten „Zeitdiagnosen“ wurde an Winston Churchills oft zitierten Satz erinnert, dass die Demokratie die schlechteste aller Regierungsformen sei, „außer allen anderen“. Das sei, so hier zu lesen, kein zugespitzt amüsantes Bonmot, sondern vielmehr eine Aufforderung, sich auch mit den jeder Demokratie innewohnenden Fehlentwicklungen und Schwächen ständig zu beschäftigen. Auch wenn es keinen Zweifel geben sollte, dass die Demokratie unbedingt und kompromisslos zu verteidigen ist, darf sie nicht zu einem religiös überhöhten und kritikfreien Raum erklärt werden.
Hans Hermann Hoppe, ein viele Jahre in den USA lehrender Ökonom, der wegen seiner wirtschaftslibertären Positionen in Europa notorisch totgeschwiegen wurde, hat hier schon 2001 die Richtung vorgegeben: „Demokratie. Der Gott, der keiner ist.“ Man muss und sollte Hoppe nicht in seiner grundsätzlichen Staatsskepsis folgen, aber seine Warnungen vor einer auch demokratisch legitimierten Politik, die alle Macht an sich reißen will, konnten wir während der Corona-Krise nachvollziehen. So wurde in der österreichischen Politik nicht nur jeder wirtschaftliche Hausverstand – „Koste es, was es wolle“ – über Bord geworfen, sondern auch tief in die Freiheits- und Bildungsrechte – Stichwort: Schulschließungen – eingegriffen. Selbst das Menschenrecht auf körperliche Integrität (Impfpflicht) galt plötzlich nicht mehr als unantastbar.
Zu den am meisten diskutierten Thesen der demokratischen Staatsrechtslehre gehört das von Ernst-Wolfgang Böckenförde 1964 formulierte Diktum: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Verkürzt erklärt geht es hier um jene im Interesse der Allgemeinheit unabdingbar geltenden Regeln, die einem unkontrollierten und grenzenlosen Freiheitsdrang des Einzelnen Grenzen setzen und damit auch nicht abstimmbar sind. Konkreter und beispielhaft formuliert: Keine 51 Prozent – aber auch keine viel größere Zahl – können die Menschenrechte außer Kraft setzen, da diese erst die „Voraussetzung“ für die Möglichkeit demokratischer Wahlen sind.
Theoretisch leuchtet das ein, doch auch diese Voraussetzung setzt wiederum eine weitere voraus, die für Böckenförde vor 60 Jahren wohl noch nicht zu erkennen war, und zwar das Vorhandensein großflächiger gemeinwohlnotwendiger Anliegen. Demokratische Politik nach 1945 war viele Jahrzehnte lang geprägt von Parteien, die sich der Realisierung der gemeinsamen Anliegen großer Gruppen innerhalb der Gesellschaft verschrieben hatten. Wo viele Menschen idente Interessen haben, kann und muss die Politik diese Gesellschaft gestalten. Wenn sich nun aber die Einzelinteressen immer mehr nach vorne drängen und dem Gemeinwohl immer weniger Bedeutung gegeben wird, sollten wir uns nicht wundern, wenn Politik nur mehr aus Kleingruppen-Lobbyismus und Populismus besteht.
Demokratie als Vierfachkrise
Zurück zum „Fall Schilling“ – nicht zu ihr als Person – als beispielhaft für die Verfasstheit der Demokratie 2024 in Österreich.
Erstens: Ursprünglich verstanden sich Parteien (von lateinisch „pars“ für „Teil“) eben als Teil eines größeren Ganzen, die miteinander um Lösungen für dieses Ganze gerungen haben und diese den jeweiligen Mehrheitsverhältnissen entsprechend realisieren konnten. Doch aus dem Wettbewerb der politischen Argumente ist längst ein Kampf um die moralische Lufthoheit geworden. Unsere politisierte und „gespaltene“ Gesellschaft, so der deutsche Philosoph Michael Andrick, befinde sich in einem „Moralgefängnis“. Und wer moralisiert, der argumentiert nicht, schließt keine Kompromisse und betreibt Politik – siehe die Nominierung Schillings – ausschließlich als Stimmenmaximierungsprozess. Fällt denn niemandem mehr auf, dass ein Großteil von dem, was (übrigens alle) Parteien kommunizieren, nur mehr reiner Stimmenkauf ist? Gehaltsverzicht bei den Kommunisten, Zuschüsse hier, Förderungen dort. Selbst die Möglichkeit, Häuslbauern bis zu 100.000 Euro zu schenken, wurde hierzulande, wenn auch glücklicherweise nur sehr kurz, diskutiert. Keine Partei argumentiert mehr mit dem gemeinschaftlichen Nutzen. „Gut“ ist nur, was dem Einzelnen etwas – oder noch besser viel – bringt. Auch Beate Meindl-Reisinger, die selbsternannte Stimme liberaler Politik in Österreich, will allen mit der Erreichung der Volljährigkeit 25.000 Euro – einfach so – schenken.
Zweitens: Lena Schilling und die Grünen stehen für eine Klimapolitik, die nicht anders als mit „Klimafundamentalismus“ zu beschreiben ist. Da kann man den vom Menschen verursachten Klimawandel noch so sehr als unzweifelhaft anerkennen; wenn man nicht die sektiererisch verfolgten Ziele der „Last Generation“ oder vergleichbarer Initiativen unterstützt, ist man ein „Klimaleugner“. Willfährige Experten und Fakten-Checker werden – medial geschickt inszeniert – zur Unterstützung aufgefahren. Dass dann ausgerechnet aus dieser Ecke von einer permanenten Bedrohung der „liberalen Demokratie“ die Rede ist, wäre fast schon wieder ein Grund zum Lachen, wenn es nicht so traurig und bedenklich wäre.
Drittens: Seit einigen Jahren ist es in der österreichischen Innenpolitik eine erfolgversprechende Strategie, als Politiker oder Politikerin als nicht zur Politik gehörend wahrgenommen zu werden. Das klingt nicht nur wie ein Widerspruch, das ist auch einer, aber von Jörg Haider bis Elke Kahr war und ist dies ein Erfolgsrezept. So verstehen wir auch, dass Lena Schilling selbstredend (noch?) nicht Mitglied der Grünen sein will. Aber bevor wir zu rasch mit dem Finger auf sie zu zeigen beginnen, die Politik spiegelt hier nur das Verhalten der Bürger. Auch wir sitzen lieber auf der Tribüne, wissen alles besser und sind zu allem bereit, nur nicht dazu, uns selbst zu engagieren.
Viertens: Last but not least, um demonstrierend die Demokratie zu retten, gibt es nur einen politisch korrekten Weg (siehe Lena Schilling) – kompromisslos gegen alles, was „rechts“ ist. Bloß nicht anstreifen bei FPÖ oder in Deutschland bei der AfD; von dort sind ja diese Hochämter der Intoleranz zu uns übergeschwappt. Auch wenn es fast nur gute Gründe gibt, diese Parteien nicht zu wählen, was an Andreas Babler oder Leonore Gewessler weniger gefährlich für die politische und demokratische Zukunft Österreichs sein sollte, müsste erst überzeugend erklärt werden.
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