Warnung vorweg an alle Leserinnen und Leser: Wer abstrakte Gedankenspiele nicht mag, sollte erst nach dem ersten Zwischentitel zu lesen beginnen, doch die eingangs formulierten Überlegungen, die immerhin rund ein Drittel des Textes ausmachen, können durchaus helfen, das danach Folgende besser einzuordnen.
Man kann es etwas überdrüber als eines der großen philosophischen Themen der gesamten Geschichte der menschlichen Zivilisation bezeichnen. Aber es ist oft auch bloß eine ganz banale und alltägliche Frage: Wer hat die Macht? Und womit wird diese Macht legitimiert? Die sogenannten „Machtspiele“ findet man ständig und überall: am Arbeitsplatz, in Partnerschaften, in der Erziehung und naturgemäß vor allem auch in der Politik. Dass selbst im vermeintlich vergleichsweise einfachen zwischenmenschlichen Bereich das alles sehr kompliziert werden kann, weiß nicht nur der Volksmund ganz genau: „Die Mutter tut, was der Vater sagt und der Vater sagt, was die Mutter will.“
Wikipedia, unser allgegenwärtiger Lebensbegleiter für Fragen aller Art, definiert Macht so: „Macht bezeichnet die Fähigkeit einer Institution, Person oder Gruppe, auf das Denken und Verhalten einzelner Personen, sozialer Gruppen oder Bevölkerungsteile so einzuwirken, dass diese sich ihren Ansichten oder Wünschen unterordnen und entsprechend verhalten.“ Neutral betrachtet, ist Macht zuallererst einmal ein Potenzial, Ordnung – oder auch Unordnung – ins menschliche Zusammenleben zu bringen. Sie ist folgerichtig weder gut noch schlecht, weder wahr noch falsch, erst ihr Gebrauch kann zum Guten oder zum Schlechten führen. Zugleich liegt es in der Natur der Sache, dass „gut“ und „schlecht“ nur selten eindeutig definiert werden kann.
Die Frage nach der Legitimität von Macht ist somit eng verbunden mit der Frage nach der Erkennbarkeit von Wahrheit. Oder anders formuliert: Wer ein Problem hat und dieses zu lösen versucht, hat dann oft zwei; das Problem selbst und die dafür gehaltene Lösung. Genau genommen gibt es für dieses Gedankenspiel zwei Extrempositionen und jede Menge von Abstufungen dazwischen: Extreme Haltungen sind zum einen Dogmatismus beziehungsweise Fundamentalismus („Ich habe immer recht und ich werde alles dafür tun, meine Überzeugungen auch immer und überall durchzusetzen!“) oder zum anderen Konstruktivismus beziehungsweise Relativismus („Es gibt keine Wahrheit. Alle unsere Erkenntnisse und Schlussfolgerungen sind das Ergebnis subjektiver Wahrnehmungen.“)
Das Erkennen von „Wahrheit“ war in der Tat das große Dilemma der Geistesgeschichte – nicht nur – des 20. Jahrhunderts. Schon in der Antike hat Archimedes nicht nur physikalisch nach jenem Fixpunkt gesucht, von dem aus er alles ableiten und erklären konnte, während Pontius Pilatus im Prozess gegen Jesus voll Skepsis die Frage nach der Wahrheit stellte und zugleich unbeantwortet ließ. Yuval Noah Harari, seit Jahren weltweit viel gelesen und diskutiert, hat einen möglichen Ausweg aus diesem Dilemma beschrieben. Er unterscheidet die „objektive Wahrheit“ (Naturgesetze) von der „subjektiven Wahrheit“ (persönliche Überzeugungen) sowie den „intersubjektiven Wahrheiten“. Letztere sind das Interessante an diesem Modell: Meinungen, Haltungen, Ansprüche, Überzeugungen oder Lehren werden dann als wahr angenommen, wenn sie von einer bestimmten kritischen Masse von Menschen begründbar oder unbegründet eben als „wahr“ akzeptiert werden. Wer hier an Religionen, Ideologien, aber auch an viele Bereiche der Wissenschaften – von der Geschichtsschreibung bis zur Rechtsfindung – denkt, liegt wohl nicht falsch.
Zeit und Macht
Macht haben heißt – wenn wir Harari folgen wollen – möglichst viele Menschen an die eigene Seite zu ziehen. Ob dies politisch – historisch – durch die Beanspruchung einer nicht weiter zu hinterfragenden Gnade Gottes durch den Papst oder den Kaiser, die Terrorherrschaft eines Diktators, das Blut eines Herrscherhauses oder – in der Gegenwart – durch ein Wählervotum in der Demokratie geschieht, macht für die Menschen natürlich einen riesigen Unterschied, aber die Machterhaltungsprinzipen ähneln sich. Dieser Gedanke mag viele verstören und – um hier nicht missverstanden zu werden – natürlich sind auf der staatspolitischen Ebene alle undemokratischen Modelle ungleich schlechter.
Doch, und hier beginnt sich die Frage nach der Macht insbesondere innerhalb von Demokratien erst richtig zu stellen: Jede und mit noch so großer Mehrheit gewählte Politik ist nie mächtig genug, um sich dem jeweiligen Zeitgeist entgegenzustellen. Victor Hugo, ein französischer Schriftsteller im 19. Jahrhundert, hat es treffend formuliert: „Nichts auf der Welt ist so mächtig wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist.“ Ältere unter uns erinnern sich noch gut daran, wie der Glaube an die technische Machbarkeit unser beinahe gesamtes Denken beherrscht hat. Und noch Ältere erinnern sich, dass der sonntägliche Kirchgang und regelmäßige Empfang der Sakramente für einen signifikanten Großteil der Bevölkerung alternativlos waren. Ein ÖVP-Landbürgermeister zumindest bis in die 60er-Jahre des letzten Jahrhunderts, der die Sonntagsmesse zu oft „geschwänzt“ hat, bekam dafür die Rechnung bei der nächsten Wahl präsentiert. Später gab es im Fernsehen keine Talk-Shows ohne Psychologinnen und Psychologen als alleinseligmachend Erklärende für alles, was in dieser Welt passiert. Heute sind es die Ökonomen und die Vertreter der bestens alimentierten Sozialinstitutionen, die den medial-öffentlichen Diskurs beherrschen; zumindest so lange, bis inhaltlich meist weitgehend unbedarfte Größen aus Sport und Pop zu den brennenden Fragen der Gegenwart interviewt werden. Anders formuliert: die Steigerungsstufen der öffentlichen Solidaritätsadressen lauten Experten – Testimonials – Überzeugungstäter.
Kommunikation über alles!
Gerd Bacher, der legendäre langjährige ORF-Generalintendant, hat bereits vor über 40 Jahren sinngemäß festgestellt: „Geschehen ist nur das, worüber die Medien berichten und geschehen ist es so, wie die Medien berichten.“
Man könnte es auch anders sagen: Die wichtigste Währung in unserer zu Recht so genannten Informations- und Kommunikationsgesellschaft ist die Macht über die Darstellung und Deutung all dessen, was ständig um uns herum passiert. In einer Gesellschaft, in der alles jederzeit und überall mit nur einem Klick erfahren werden kann, ist diese Informationsflut in Wirklichkeit ein längst nicht mehr bewältigbarer Tsunami an Erzählungen, die uns täglich überrollen. Letztlich ist es für jeden von uns fast unmöglich geworden, sich valide zu orientieren. Mit einem anderen Bild: Wir leben alle in einem völlig unüberschaubaren Wald an Informationen, in dem aber fast bei jedem Baum ein Wegweiser uns in eine Richtung führen will, meist mit völlig diametral verschiedenen Angaben.
Wer beispielsweise die Nachrichten in „Servus TV“ und im „ORF“ hintereinander konsumiert, wird glauben, in zumindest zwei sehr unterschiedlichen Welten zu leben. Und für die eine zahlen wir sogar!
Wenn wir diese nun kaum zu widerlegenden Beobachtungen mit dem zuvor Erörterten zum Phänomen der „intersubjektiven Wahrheiten“ zusammenlegen, ergibt dies ein erschreckendes Bild: Die wahren Machthaber sind längst nicht mehr demokratisch legitimierte Repräsentanten der Gesellschaft, sondern jene, die den Diskurs steuern.
Es gibt den schönen Satz, dass Macht korrumpiert und absolute Macht absolut korrumpiert. Wer bereit ist, genauer hinzuschauen und hinzuhören, erlebt fast täglich den oft gnadenlosen Wettbewerb um die Vorherrschaft um die öffentliche Wahrnehmung.
Wer am Morgen nach der Wahl zur Präsidentschaft in den USA das Ö1-Journal ohne tiefere Kenntnis der amerikanischen Realität gehört hat, musste zur Erkenntnis kommen, dass Donald Trump seinen Sieg ausschließlich minder bemittelten, einem faschistoiden Politiker kritiklos glaubenden Wählerinnen und Wählern verdankt, während die vor allem in den selbsternannten deutschsprachigen Qualitätsmedien zur Heilsbringerin hochstilisierten Kamilla Harris mehr oder weniger an der Demokratieunfähigkeit der Amerikaner gescheitert sei.
Selbst Harald Martenstein, Starkolumnist der linksliberalen deutschen Wochenzeitung „Die Zeit“, hat am letzten Sonntag in einem Interview in der Presse unmissverständlich festgehalten: „Eine Demokratie, in der nur mehr linke Positionen zulässig sind, ist keine Demokratie.“ Vielleicht hat er dabei aber nicht nur an Trump, sondern auch an das Scheitern der Ampelkoalition in seinem Heimatland gedacht: Denn hier wurde gerade im öffentlich-rechtlichen Fernsehen ein Scherbengericht über den vom sonst notorisch entscheidungsschwachen Kanzler Olaf Scholz (SPD) entlassenen Finanzminister Christian Lindner (FDP) gehalten. Dessen Vergehen ist natürlich für jede linke Diskursdiktatur ein unentschuldbares Verhalten gewesen: Er wollte schlicht und ergreifend die Staatsfinanzen zumindest einigermaßen in Ordnung bringen.
Apropos Donald Trump: Was den europäischen Medien-Apokalyptikern sichtlich gar nicht in den Sinn kommen will, auch wenn es natürlich eine Reihe guter Gründe gibt, ihn nicht zu mögen oder auch als Politiker abzulehnen: Die Wählerinnen und Wähler haben hier ganz bestimmt nicht „blind“ oder „ins Blaue hinein“ ihre Stimme abgegeben. Sie wussten es viel besser als unsere europäischen Kommentatoren, sie kannten ihn bereits als Präsidenten. Wann, wenn nicht unter dieser Voraussetzung sollte der Vergleich sicher machen?
Erschienen im Rahmen der Serie „ZEITDIAGNOSEN” von Hans Putzer.