Seit zwei Jahren werden an dieser Stelle einmal im Monat Diagnosen zur aktuellen Zeit versucht. Nicht der parteipolitischen „Vorderbühne“ gilt das Interesse, sondern viel mehr den Tiefenschichten unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens. Regelmäßige Leserinnen und Leser dieser Seiten wissen, dass es vor allem drei große „M“ sind, die wie ein Fundament diese Überlegungen verbinden: Moral, Macht und Meinung. Das alles ist natürlich kein Zufall: Genau an diesen Begriffen entzünden sich regelmäßig Diskussionen. Hier finden wir auch jene Bruchlinien, die zur viel zitierten und allzu oft überstrapazierten Spaltung der Gesellschaft führen und führten.
Vielleicht ist auch mancher oder manchem der Titel dieser Zeitdiagnose bekannt vorgekommen. In der Tat ist er eine geringfügige Veränderung eines berühmten Zitats eines noch berühmteren Staatsrechtlers der sogenannten Zwischenkriegszeit: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet,“ hat Carl Schmitt bereits 1922 in seiner „Politische[n] Theologie“ geschrieben. Schmitt (1888 – 1985), das sei an dieser Stelle auch gesagt, gilt heute wegen seiner Unterstützung der nationalsozialistischen Politik in vielen Kreisen als „Persona non grata“, obwohl er sowohl in der Weimarer Republik als auch in der Bundesrepublik Deutschland nach 1945 wesentliche Beiträge zur Politik, zur Verfassung und zum Staatswesen insgesamt formuliert hat.
Carl Schmitt hat eine Reihe von klugen Gedanken über die negativen Auswirkungen einer zunehmenden Individualisierung für die Politik und das Staatsganze formuliert. Würden ihn die heute politisch Verantwortlichen lesen, müssten sie viele seiner Befürchtungen als eingetreten anerkennen. „Der Mensch ist dem Menschen ein Mensch“ hat er einmal in Anlehnung an Thomas Hobbes’ „Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf“ geschrieben und damit zum Ausdruck gebracht, wer des Menschen größter Feind ist.
Souverän?
Doch kommen wir zu Schmitts Zitat zum „Souverän“ und zum „Ausnahmezustand“ zurück. Beide Begriffe werden im alltäglichen Sprachgebrauch heute doch wesentlich anders verwendet als vor rund 100 Jahren. Wir dürfen nicht vergessen, dass diese Zeit von den großen Umbrüchen nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und der damit höchst unsicheren Zukunft der gerade erst entstehenden Demokratien geprägt war. „Souverän“ – hauptwörtlich gebraucht – war für Schmitt jene Instanz, die die Kraft hat, eine Ordnung zu installieren, die normative Macht über ein Staatsgebiet beziehungsweise eine Volksgemeinschaft hat. In den politisch unsicheren Zeiten der Zwanzigerjahre des letzten Jahrhunderts konnte dies ganz konkret heißen, Bürgerkriege oder bürgerkriegsähnliche Zustände zu befrieden, oder anders formuliert: den Ausnahmezustand zu beherrschen. Politik als Dauerintervention in das Alltagsleben, so wie wir es gegenwärtig erleben, war dieser Zeit fremd.
Carl Schmitt ging es einerseits um einen handlungsfähigen Staat, zum anderen wusste er aber auch, dass jedes Gemeinwesen informelle Spielregeln kennt, die über Macht und Ohnmacht der handelnden Verantwortungsträger entscheiden. Auch in der theoretisch „allerbesten“ Demokratie findet letztlich ein ständiger Kampf um die Herrschaft über die Menschen statt. Unsere sogenannte westliche Welt kennt viele solcher Kampfplätze, den zwischen Kirche und Staat bis weit in die Neuzeit, den zwischen Mutterländern und ihren Kolonien, den Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat, seit jüngster Zeit auch den zwischen „online“ und „offline“ usw. Was aber heute wohl ausgedient hat, wäre ein Herbeiführen-Wollen eines Ausnahmezustands. Weder Donald Trump konnte diesen vor vier Jahre mit der von ihm zumindest wohlwollend begleiteten Erstürmung des Kapitols erwirken, noch der Präsident Südkoreas Yoon Suk Yeol, der erst vor wenigen Wochen seinem Land das Kriegsrecht verordnen wollte.
Deutung!
In den diversen politischen Talkshows, aber auch bei Sonntagsreden wird heute stets das Wahlvolk als „Souverän“ beschworen. Theoretisch hätte das auch schon 1922 gelten sollen, praktisch ist es aber bis heute nicht so eindeutig und unzweifelhaft festzuhalten. Im Sinne Carl Schmitts müssen wir uns auch 2025 die Frage stellen, wer gegenwärtig über Macht verfügt.
Nur ein kleines Gedankenexperiment: Journalisten, die Politiker mit allen ihnen zur Verfügung stehenden lauteren und unlauteren Mitteln vor sich hertreiben, gelten im öffentlichen Diskurs als „kritisch“. Sie erfüllen ihre Aufgabe als „vierte Macht“ im Staat, der Applaus von den Tribünen der immer alles besser Wissenden ist ihnen sicher. Ein Politiker, der diesen Weg allerdings umgekehrt zu gehen wagt, sollte sich beizeiten nach einem neuen Beschäftigungsfeld umsehen. Dies sollte nicht als Aufruf zu ausgeprägtem Mitleid missverstanden werden. Denn wer die Hitze nicht aushält, hat schon Henry Kissinger im Blick auf den Beruf eines Politikers gemeint, sollte sich eben nicht in die Küche begeben.
Das Beschriebene zeigt nur, dass Macht und Ohnmacht ganz wesentlich davon bestimmt werden, wem in der Öffentlichkeit der sprichwörtliche Daumen nach oben oder nach unten gezeigt wird. Beispiele für diesen „Meinungswettbewerb“ gibt es in unüberschaubarer Menge.
Viele von uns haben in den letzten Wochen die Brandkatastrophen um Los Angeles in Kalifornien in den Medien verfolgt. Journalistisch betrachtet eine „richtig gute Geschichte“. Schließlich lebt hier nicht nur eine Reihe von Hollywoodgrößen, im Stadtteil Pacific Palisades haben auch so prominente Repräsentanten der Bildungsbürgerschicht wie Thomas Mann oder Theodor Adorno seinerzeit einen sicheren Ort vor den Nazis gefunden.
Was so viel Aufmerksamkeit generiert, wurde natürlich auch in den USA innenpolitisch zu einem im doppelten Wortsinn „heißen Eisen“, auch wenn die Präsidentschaftswahl zu diesem Zeitpunkt längst vorüber war. Für die „Republikaner“ haben die beiden „Demokraten“, die Bürgermeisterin Karen Bass und der Gouverneur Gevin Newsom, völlig versagt, während jene wiederum die Schuld bei den republikanischen „Klimaleugnern“ sehen.
Ähnlich ist es ja auch bei uns: Zwischen den Klimafundis, die möglichst alles dem Klimaschutz unterordnen wollen, und den Obskuranten, die den vom Menschen mitverursachten Klimawandel unbeirrt und unbedarft hartnäckig leugnen, gibt es auch keinen sachlichen Diskurs, sondern nur mehr den Kampf um die Lufthoheit in den Medien und auf den Stammtischen. Kein Wunder also, dass hier differenzierter denkende und damit naturgemäß auch umstrittene Wissenschaftler wie Bjørn Lomborg oder Michael D. Shellenberger sicherheitshalber erst gar nicht wahrgenommen werden. Wir sollten die Warnung von Jordan Peterson in der jüngsten Züricher „Weltwoche“ ernst nehmen: „Kommunikation ist nicht mehr möglich. Das ist per definitionem die Voraussetzung für Krieg.“
Und in Österreich: Auch seit dem Scheitern der Verhandlungen für eine Koalition ÖVP-SPÖ-NEOS wird weniger die Diskussion über die trennenden Inhalte geführt, sondern tobt viel mehr ein Streit darüber, wer für dieses Scheitern verantwortlich ist. Und welche Erzählung letztlich stimmen wird, entscheiden Medien, die sich längst nicht mehr als Vermittler von Informationen, sondern als „Meinungsmacher“ und Instanzen der „Einordnung“ verstehen. Natürlich ist beim ORF und beim Wiener Bürgermeister wieder nur die Wirtschaft schuld, denn dort sitzen ja die bösen „Lobbyisten“, in Österreich ein Schimpfwort, dessen denunziatorischer Charakter nur mehr mit dem Begriff der „Unschuldsvermutung“ zu vergleichen ist. Weil aber auch die Politik und die Medien schon längst über ihr schlechtes Image Bescheid wissen, halten sie sich Legionen von willfährigen Experten und Fakten-Checkern.
Ein letzter Blick nach Deutschland: Der Doppelmord eines nicht rechtskonform ausgewiesenen Afghanen – längst kein Einzelfall mehr – hat den CDU-Kanzlerkandidaten dazu veranlasst, die Einreisebestimmungen massiv verschärfen zu wollen. Dazu sei ihm, so Friedrich Merz, jede Mehrheit recht. Mehr hat es bei der vereinten Linken nicht gebraucht. Bevor man sich von der AfD unterstützen lässt, sollte man dann doch besser gar nichts tun. Denn die Deutungshoheit über die politische Großwetterlage ist im Zweifelsfall immer noch wichtiger als dem politischen Mitbewerber zuzugestehen, dass er den richtigen Weg eingeschlagen hat.
Erschienen im Rahmen der Serie „ZEITDIAGNOSEN” von Hans Putzer.