Noch nie wurde in Österreich für Urlaube so viel ausgegeben wie 2023. Der Privatkonsum boomt wie vor Corona, trotz hoher Inflation steigt die Kaufkraft. Beitrag von Hans Putzer im Rahmen seiner monatlichen Serie „Zeitdiagnosen“.
Aufmerksames Zeitungslesen führt zuweilen zu bemerkenswerten Erkenntnissen. Ein ressentimentgeladenes Interview mit dem früheren Caritasdirektor Franz Küberl in der „Kleinen Zeitung“ will uns weismachen, dass sich eine gewachsene Zahl von Menschen in einer „Armutsspirale“ befindet und die ÖVP dafür kein Sensorium habe. Die postulierte „Evidenz“ dieser Behauptung bleibt er uns allerdings schuldig.
Wenige Tage später – vor genau einer Woche – hat NEUES LAND von den „niedrigen Erlösen bei gleichzeitig hohen Produktionskosten“ berichtet. Während die Landwirtschaft mit ständig neuen Belastungen konfrontiert wird, im Klartext: Bäuerinnen und Bauern für immer mehr Leistung immer weniger Geld bekommen und täglich die Discounter und die Arbeiterkammer im sprichwörtlichen „Genick“ haben, werden die Stimmen für leitungsunabhängige Zuwendungen immer lauter.
Würde sich nur ein Zehntel der veröffentlichten Meinung, die uns in immer kürzeren Abständen eine Erhöhung des Arbeitslosengeldes als Inbegriff sozialer Gerechtigkeit zu verkaufen versucht, auch für die mehr als berechtigten Anliegen der Landwirtschaft adäquat stark machen, es wäre ein besseres Land. Doch wer das Hohelied der Armut singt, hat heute medial die besseren Karten, es sei denn, man ist Unternehmer.
Unheilige Allianz
In einem sind sich Andreas Babler (SPÖ), Herbert Kickl (FPÖ) und Franz Küberl (Caritas) einig: Schuld daran ist die Volkspartei. Für Kickl haben die ÖVP – und gnädigerweise auch die Grünen – „Wirtschaft und Wohlstand vernichtet“ und Babler spricht von einer „menschenverachtenden“ Volkspartei. Küberl meint nicht weniger undifferenziert und verallgemeinernd: „Das Problem der ÖVP ist: Sie hinkt sozial zu viel.“ Davon einmal abgesehen, dass die Verwendung des Wortes „hinken“ – damit hat man früher Behinderte abgewertet – nicht gerade von einer ausgeprägten Sprachsensibilität zeugt, der versteckte Vorwurf ist offensichtlich: Die Volkspartei sei nicht (mehr?) christlich-sozial. Hat doch auch Andreas Babler zuletzt davon gesprochen, er wolle die verbliebenen Christlich-Sozialen einladen, zu seiner Partei zu wechseln.
Mehr ein Feindbild
Nun, dieses Fremdbild – mehr ein Feindbild – der SPÖ von der ÖVP ist weder neu noch besonders originell. Seit den Siebzigerjahren war die „rote“ Rolle für die „Schwarzen“ klar: willfähriger Juniorpartner, oder noch besser, Oppositionsbank, denn „christlich-sozial“ bedeutete unter Ausschaltung des „Personsprinzips“ bestenfalls sozialistisch mit Weihrauch.
Nur am Rande: Der lange in Oxford lehrende Philosoph, Politik- und Ideengeschichtler Larry Siedentop hat dieses „Personsprinzips“, die unteilbare Würde und damit einhergehend die nicht relativierbare Verantwortung jedes Einzelnen für sich selbst, als die zentrale Wurzel des europäischen Liberalismus‘ herausgearbeitet. Sei’s drum. Wenn sich die ÖVP als „christlich-sozial“ definiert, ist das zum einen zwar ein hoher Anspruch, zum anderen aber fällt das ganz bestimmt nicht in die Deutungshoheit anderer Parteien oder gar kirchlicher Funktionäre.
Das alles könnte man ja noch unter politischer Folklore abhaken. Wer Stimmen oder Spenden maximieren will, braucht griffige Narrative. Nichts ist leichter, einer Gesellschaft, die ständig von einer kaum reflektierten Life-Work-Balance schwurbelt, am Montag auf Ö3 arbeitsdepressiv gestimmt und am Freitag mit „Hoch die Hände, Wochenende“ in die zweieinhalbtägige Erlösung entlassen wird, als ihr einzureden, dass sie mehrheitlich aus armen Menschen besteht. Arm, weil ihnen Leistung abverlangt wird, oder arm, weil sie – aus welchen Gründen auch immer – meinen, keinen „gerechten“ Anteil am gesellschaftlichen Leben zu haben.
Wer ist arm in Österreich?
Werfen wir, bevor wir uns dieser entscheidenden Frage zuwenden, einen kurzen Blick auf die Glücksforschung, die nun schon seit den Fünfzigerjahren des letzten Jahrhunderts mit sehr validen Ergebnissen aufwarten kann. Vor allem ein Aspekt wurde und wird hier immer wieder untersucht, der Zusammenhang zwischen Einkommen und subjektivem Glücksgefühl. Hier zeigt sich über die Jahrzehnte hinweg, dass bereits ab einem eher unterdurchschnittlichen Einkommen, sich glücklich oder nicht glücklich zu fühlen, mehr von der „Vergleichsgröße“ Nachbar als von den eigenen ökonomischen Ressourcen abhängt. Einfacher gesagt: Hat die Familie von nebenan kein größeres Auto, dann geht es uns gut. Das ist auch für die Armutsdiskussion insgesamt wichtig, denn Nachbarschaft kennt heute keine räumlichen Grenzen mehr. Irgendwo ist immer irgendwer, der mir das Gefühl gibt, ungerecht benachteiligt zu sein.
Wie einfach dieser Reflex funktioniert, zeigt beispielsweise das angekündigte Steuermodell von Andreas Babler: 98 oder 96 Prozent, beide Zahlen waren zu lesen, werden von seiner Reform profitieren, nur die „reichsten“ zwei Prozent müssen Verluste hinnehmen. Und dann werde es paradiesische Zustände in Österreich geben. Wir sollten durchaus wagen, spätestens hier den Begriff Voodoo-Ökonomie ins Gespräch zu werfen.
Beispiel Berlin
Dass Vermögenssteuern ungeachtet ihrer ideologischen Schlagseite selbst für den Fiskus nichts bringen, haben deutsche Ökonomen längst vorgerechnet. Auch der frühere SPÖ-Finanzminister Ferdinand Lacina wusste das. Und in Berlin ist das Angebot an Wohnungen nach einer teilweisen Ausschaltung privater Anbieter und einer Deckelung der Mietpreise mehr oder weniger zusammengebrochen.
Die Geschichte lehrt in diesem Zusammenhang vor allem eines: Alle Versuche, Gerechtigkeit dadurch herzustellen, dass Gleichheit zum obersten ökonomischen Ziel erklärt wurde, hat nie zum Wohlstand für alle, ja nicht einmal zum Wohlstand von vielen geführt, sondern die Gesellschaft insgesamt ärmer werden lassen.
Zurück zur Ausgangsfrage: Wer ist arm in Österreich? Hier gibt es zumindest vier Antwortmöglichkeiten: arm ist, wer sich arm fühlt oder arm ist, der es so lange hört, bis er es glaubt. Beides ist natürlich kein seriöser Befund. Es wird immer Menschen geben, die weniger haben, wahrscheinlich sogar viel weniger. Unbestritten ist es hier die Aufgabe des Sozialstaates, gegebenenfalls existenzsichernd zu wirken.
Interessanter sind schon die Antworten drei und vier: Glaubt man dem mehr oder weniger willkürlich erstellten Grenzwert zur Armutsgefährdung, der vom Medianeinkommen – also dem Mittelwert aller Einkommen – ausgeht, sind es je nach Berechnung zwischen 14,8 und 17,5 Prozent der Bevölkerung. Doch diese Menschen sind nicht zwangsläufig arm, sie sind statistisch ärmer, und das ist schon ein gewaltiger Unterschied. Die „tatsächlich Armen“ beziffert nicht nur die Statistik Austria mit 2,3 Prozent. Und um hier nicht missverstanden zu werden, jede in diese Gruppe fallende Person ist um eine zu viel.
„Eat the rich“ – Esst [vernichtet] die Reichen – ist ein beliebter Kampfruf der Linksextremen, übrigens auch ihrer Spiegelbilder im Rechtsextremismus. Mit der Formulierung „rohe Bürgerlichkeit“, anfangs geprägt vom deutschen Soziologen Wilhelm Heitmayr für die Politik der AfD, wird heute jede Politik, die nicht dezidiert links daherkommt, denunziert.
Reichtum sei tendenziell unanständig, dabei sind es die Reichen, die mehrheitlich für jene produktiven Arbeitsplätze sorgen, mit denen der Sozialstaat erst finanziert wird. Mittlerweile sind es bereits 30 Prozent der gesamten österreichischen Wirtschaftsleistung, die für Sozialleistungen umverteilt werden. Das kann man auch mit guten Gründen befürworten, nur dann wie Franz Küberl von einem „Reichtumstaumel“ zu sprechen, ist mehr als verwegen, genau genommen obszön!
Schlag nach bei Prugger
Erhard Prugger, einer der profundesten Kenner des österreichischen Sozialstaates, der für die AUVA Oberösterreich und am Linzer UKH arbeitet sowie an einer FH für Soziales unterrichtet, hat vor kurzem das Buch „Sozialfall Sozialstaat“ veröffentlicht. Seine wichtigen und sehr bedenkenswerten Überlegungen werden in einer der nächsten „Zeitdiagnosen“ hier zur Diskussion gestellt werden. Aber zumindest eine seiner Kernfragen soll bereits an dieser Stelle angeführt werden: Wie lange wollen wir noch in einem der weltweit großzügigsten Sozialsysteme faktenbefreit über „soziale Gerechtigkeit“ reden, aber den Begriff der „Leistungsgerechtigkeit“ zugleich verschämt verschweigen?
Aber nur so werden wir den Sozialstaat sichern, nur so werden wir den 2,3 Prozent real Armen helfen können und last but not least, nur dann werden wir auch die Leistungen der Landwirtschaft endlich ökonomisch gerecht würdigen. Denn unsere Bäuerinnen und Bauern rufen nicht nach dem Sozialstaat, sondern krempeln die Ärmel meist halt noch ein bisschen höher.
Beitragsfoto: Franz Kaplan