Europa wählt! Am Papier zumindest!

Schon zum siebten Mal sind die Österreicherinnen und Österreicher am 9. Juni aufgerufen, dieses Mal 20 der insgesamt 720 Abgeordneten des EU-Parlaments zu wählen.

von NEUES LAND

Schon im Titel dieser Zeitdiagnose finden sich ein schwerer und ein leichter Fehler. Dass nicht ein Kontinent, sondern seine Bürgerinnen und Bürger wählen – gekauft, darüber kann hinweggesehen werden, verkürzen ist schließlich ein legitimes Stilmittel. Der schwere Fehler ist nicht „Europa“ als Kollektivbegriff zu verwenden, sondern als politischer Begriff. Nicht die Europäerinnen und Europäer werden zu den Wahlurnen gerufen, sondern die Wählerinnen und Wähler der 27 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, die übrigens – denken wir nur beispielsweise an die Kanaren, die Azoren oder Französisch-Guayana – gar nicht zwingend geografisch Europäer sein müssen.

„Europa“ und die „Europäische Union“ werden im Alltag ständig verwechselt, was auch daran liegen mag, dass viele einerseits die „Union“ irgendwo zwischen „detailversessenes Bürokratiemonster“ und von der konkreten Lebenswirklichkeit der Menschen als „weit abgehoben“ wahrnehmen, mit „Europa“ andererseits aber, wenn überhaupt, edle Ideen, jedoch eine wenig ruhmreiche Geschichte verbinden.

Faktisch betrachtet ist die Europäische Union eine von drei globalen Großmächten. Das Bruttoinlandsprodukt der EU-27 betrug im Jahr 2023 rund 18,41 Billionen US-Dollar, das der USA 27,36 Billionen, das von China 17,7 Billionen. (Mit Großbritannien als fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt läge der EU-Wert übrigens bei über 20 Billionen!) Auch bei den Bevölkerungszahlen ist die EU mit rund 449 Millionen ganz vorne dabei (zum Vergleich: USA rund 340 Millionen und China mit 1,425 Milliarden; zu ergänzen wäre hier noch Indien, das mit 1,444 Milliarden Einwohnern zuletzt China überholt hat).

Fehler im System

Ein Gedankenexperiment: Bei der nächsten Wahl zum Österreichischen Nationalrat treten in allen neun Bundesländern eigenständige, sich von ihren jeweiligen „Schwesternparteien“ auch durchaus inhaltlich divergente Bündnisse und Parteien an. Die Landesparteien dominieren mit ihren regionalen Anliegen und mit den ihnen zur Verfügung stehenden Machtapparaten den Wahlkampf und entsenden schlussendlich die gewählten Mandatarinnen und Mandatare mit dem Auftrag nach Wien, zuallererst die Interessen des jeweiligen Bundeslandes im gesamtösterreichischen Parlament zu vertreten. (Zugegeben, zumindest der letzte Punkt ist manchmal gar nicht so weit hergeholt, aber das ist eine andere Geschichte.) Und nach der Wahl wird es die „vornehmste“ Aufgabe der auf diese Weise Gewählten sein, für alle Probleme gerade zu stehen und die Erfolge großzügig den „Landesfürsten“ zu überlassen.

Das alles klingt doch einigermaßen absurd, oder zumindest nicht sehr erfolgversprechend. Aber, auch wenn dieses Gedankenexperiment etwas zugespitzt sein mag, so wird das Europäische Parlament gewählt. In jedem Land treten die nationalen Parteien an. In Zeiten einer hoch personalisierten politischen Kommunikation sind hierzulande zumindest den politisch Interessierten die Namen Reinhold Lopatka, Andreas Schieder, Harald Vilimsky, Lena Schilling und Helmut Brandstätter vertraut. (Bei Maria Hubmer-Mogg, DNA, und Günther Hopfgartner, KPÖ, dürfte es wohl anders sein!)

Dass es auch bei den meisten Fraktionen im EU-Parlament zumindest formale Spitzenkandidatinnen und -kandidaten gibt, dürfte dagegen kaum angekommen sein. Ursula von der Leyen von der Europäischen Volkspartei ist noch allgemein bekannt, doch wem sagt der Name Nicolas Schmit etwas, ein Mitglied der Luxemburgischen Sozialistischen Arbeiterpartei, der als Spitzenkandidat der Sozialdemokratischen Partei Europas nominiert wurde. Die Fraktion „Identität und Demokratie“, der auch die FPÖ angehört, hat erst gar keine deklarierte Spitze. Übrigens gibt es in dieser Riege der weithin Unbekannten auch einen Österreicher: Der Kommunist Walter Baier steht bei der „Partei der Europäischen Linken“ ganz vorne. Peinlich, aber die Schande von Graz „goes Europe“.

Natürlich wäre es der demokratiepolitische Idealfall, wenn nicht die österreichischen, sondern die europäischen Parteien oder Bündnisse am Wahlzettel stünden. Sinnvoller wäre es auch zu wissen, wofür die europäischen Fraktionen im Detail stehen. Hier darf nicht die Ausrede gelten, dass wir auch bei Nationalratswahlen in regionalen Wahlkreisen wählen, denn der reale, nicht der formale Unterschied ist entscheidend: Auch wenn wir unsere Stimme in einem der steirischen Regionalwahlkreise abgeben, entscheiden wir nach – ganz vereinzelte Ausnahmen mit familiären oder freundschaftlichen Verbindungen mag es geben – bundespolitischen Präferenzen.

Um hier nicht missverstanden zu werden, natürlich ist das aktuelle Wahlmodell für das Europäische Parlament noch (!) alternativlos, weil das kurz dargestellte Idealsystem noch (!) völlig unrealistisch ist. Warum aber, wo es demokratiepolitisch eben nur die zweitbeste Lösung ist? Dafür gibt es zumindest drei Antworten oder besser formuliert: drei Bündel von Antworten.

Machtverlust

Die erste Erklärung ist rasch und leicht nachvollziehbar: Eine Verlagerung des politischen Wettbewerbs auf die europäische Ebene kann nur mit einem realen Machtverlust der nationalen Parteien einhergehen. Wir erleben ja auch bei Nationalratswahlen, dass die jeweiligen Landesparteien bei den Kandidatenlisten weitaus größeren Einfluss haben als der „Bund“, was übrigens nicht immer dem allgemeinen Nutzen dient. Aber wo kämen wir hin (Vorsicht: Ironie!), wenn nun auch schon bei den Wahlen zum EU-Parlament jene Länder und Persönlichkeiten, die in den Jahren danach Kraft ihrer Größe und Stärke die Politik bestimmen, am Stimmzettel sichtbar wären.

Divergenz

Die zweite Erklärung ist schon nicht mehr ganz so einfach, aber äußerst spannend. Zu den gewachsenen ideologischen Unterschieden nationaler Parteien kommen nun auch noch oft kaum zu überwindende inhaltliche Differenzen zwischen den „Schwesterparteien“ in den sogenannten Fraktionen, die meist auf lange kulturelle Prägungen zurückgehen. Skandinavische Sozialdemokraten mit ihrem ausgeprägten Bewusstsein für eine Balance zwischen der individuellen und kollektiven Verantwortung für das Zusammenleben der Menschen haben mit dem Raubtiersozialismus eines Andreas Babler oder gar den weit „links außen“ stehenden spanischen Sozialdemokraten, die zuletzt zur Mehrheitsfindung selbst verfassungsfeindliche Parteien pardonierten und mit Steuergeldern entschuldeten, nur wenige Gemeinsamkeiten. Ein kurzer Blick zur norwegischen Budget- oder zur dänischen Asylpolitik genügt hier schon.

Aber auch im „rechten“ Lager, das sich ja naturgemäß auch an nationalen Interessen orientiert, sind die Unterschiede deutlich zu erkennen. Der Bruch zwischen der AfD (Alternative für Deutschland) und der französischen „Front National“ (seit 2018 „Rassemblement National“) ist letztlich mehr gewesen als bloß eine Folge der SS-Relativierung des AfD-Spitzenkandidaten Maximilian Krah. Ähnlich den „Fratelli d’Italia“ von Ministerpräsidentin Giorgia Meloni steht auch der „Ressemblement“ für eine explizit national-konservative und antisozialistische Politik, wobei zumindest letzteres schon genügt, um sie von linken Deutungseliten als „rechtsradikal“ zu kategorisieren. Aber auch zwischen diesen beiden Parteien steht ein veritabler ideologischer Graben. Die französische steht für Säkularität, die italienische versteht sich als explizit christlich und damit aber auch wieder in Opposition zu jenen sich selbst als christlich-sozial verstehenden Parteien der Mitte, deren Ideologie allerdings oft nicht mehr als ein „Sozialismus light mit Weihrauch“ zu sein scheint und die regelmäßig vor neochristlicher Klimahysterie und Asylnaivität einknicken. Und last but not least sei an die ständigen Auseinandersetzungen innerhalb der Europäischen Volkspartei um die ungarische „Fidesz“ von Viktor Orbán erinnert.

Unionsmodelle

Die dritte Erklärung trifft den Kern der Diskussionen um das Selbstverständnis der EU, das Verhältnis der Union zu den Nationalstaaten. Eine Politik, wie wir sie letztlich in allen Couleurs finden, die ihre eigenen Wünsche für eine nicht weiter zu hinterfragende Wahrheit erachtet und gegenteilige Positionen als das Unmögliche schlechthin verachtet, macht es sich zu leicht. Faktum ist: In kaum einer politischen Frage gehen Wunsch und Wirklichkeit so weit auseinander wie bei den beiden konträren Denkmodellen „Europa der Nationen“ und „Vereinigte Staaten von Europa“. Der Spalt zwischen föderaler Subsidiarität und zentralen Bevormundungsphantasien ist längst keine Verfassungsfrage mehr, sondern zutiefst ideologisch geprägt. Es ist halt letztlich auch leichter, alles Mögliche und Nebensächliche zu reglementieren als die beiden wirklich großen Herausforderungen in Angriff zu nehmen: die Flüchtlingsströme und die globale ökonomische Wettbewerbsfähigkeit Europas.

Erschienen im Rahmen der Serie „ZEITDIAGNOSEN” von Hans Putzer.

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