Nachwahlanalysen und das Spekulieren über Auswirkungen für künftige Urnengänge sind medial allgegenwärtig. Manches fällt dabei unter den Tisch. Eine bemerkenswerte „Zeitdiagnose“ von Hans Putzer.
Grundsätzlich widmen sich die monatlichen „Zeitdiagnosen“ weder der Tagespolitik noch parteipolitischen Fragen. Im Regelfall sind solche Analysen ohnehin meist nur ein Sammelsurium aus Selbstverständlichkeiten, Wunschkonzert und interessensgesteuerten Spekulationen. Diese Serie will gesellschaftspolitischen Trends, die über den konkreten und aktuellen politischen Alltag hinausgehen, nachspüren. Wenn nun die folgenden Überlegungen von den vier Landtagswahlen des Arbeitsjahres 2022/23 ausgehen, dann gibt es dafür zumindest zwei gute Gründe. Zum einen bilden ihre Ergebnisse ungeachtet länderspezifischer Besonderheiten doch einige bemerkenswerte Trends ab und zum anderen weisen die üblichen, auch medial veröffentlichen Analysen einige auffällig blinde Flecken auf, die wiederum mit diesen größeren Trends in einem spannenden Zusammenhang stehen.
So weit, so bekannt
Nur zur Erinnerung und Einordung vorweg ein paar wenige Fakten, die ohnehin als bekannt vorausgesetzt werden können. Bei allen vier Urnengängen (Tirol am 25. September, Niederösterreich am 29. Jänner, Kärnten am 5. März und Salzburg am 23. April) haben die Landeshauptmannparteien ÖVP (T, N, S) und SPÖ (K) dreimal mehr als neun und in Salzburg mehr als sieben Prozentpunkte verloren. Grob gerechnet war das jeweils ein Fünftel gegenüber den vorhergegangenen Wahlen. Man muss kein Politikwissenschaftler oder Innenpolitik-Ressortleiter eines Mediums sein, um zu erkennen, dass krisenhaft empfundene Zeiten keine guten Zeiten für Regierende in Führungsverantwortung sind.
Richten wir unseren Blick noch auf ein zweites von den Ergebnissen leicht ablesbares Detail. In wie vielen Bundesländern haben die fünf im Nationalrat vertretenen Parteien gewonnen und verloren? ÖVP und SPÖ haben hier mit jeweils 1:3 ein negatives Ergebnis, bei den Grünen steht ein 2:2-Remis zu Buche, wobei die Verschiebungen in beiden Richtungen jeweils nur geringfügig waren, die NEOS „siegten“ in diesem Match immerhin mit 3:1 und die FPÖ gar mit 4:0.
Politiker? Nein danke!
Der Trend ist ja alles andere als neu. Bei den regelmäßig durchgeführten Umfragen zum Image einzelner Berufsgruppen liegen die Politikerinnen und Politiker – wie übrigens auch die Medienmacher – stets weit hinten. Weil wir aus der Psychologie wissen, wie stark Erwartungshaltungen uns daran hindern, zu veränderten Einschätzungen zu kommen, muss sich jeder, der sich in die Politik engagiert, auf einen beträchtlichen Misstrauensvorschuss vorbereiten. In den Gemeinden – Großstädte einmal ausgenommen – hilft die größere Wahrscheinlichkeit einer direkten Begegnung zwar noch einigermaßen, vom diffusen Vorurteil zu einem erfahrungsgesättigten Urteil zu kommen. Darüber hinaus allerdings wird Politik, wenn überhaupt, nur mehr medial und damit fremdgesteuert wahrgenommen.
Logische Konsequenz des Ganzen: Wer in der Politik Erfolg haben will, sollte möglichst den Anschein erwecken können, nicht dazuzugehören. Jörg Haider und die Grazer Bürgermeisterin Elke Kahr konnten sich abseits ihres fast deckungsgleichen Talents zum Populismus ein solches Image aufbauen. Weder Haiders Bilder im Porsche-Cabriolet noch Kahr Huldigungsadressen an den Kriegsverbrecher Tito wurden ihnen übelgenommen. Man stelle sich vor, ein führender Repräsentant von ÖVP oder SPÖ hätte dies getan. (Wolfgang Schüssel auf Haiders Beifahrersitz kann davon ein Lied singen!) Die „Liste Fritz“ in Tirol, Gerhard Köfers „Team Kärnten“ und die KPÖ PLUS in Salzburg haben bei den angesprochenen Landtagswahlen die jeweils größten Zugewinne verzeichnet und alle drei werden – welch Überraschung – als nicht zum politischen Establishment zugehörig wahrgenommen. Das wirft bis jetzt kaum gestellte Fragen für die Zukunft der österreichischen Parteienlandschaft auf. Da geht es schon um mehr als nur um die aktuell so wehleidig beklagten Zuwächse an den politischen Rändern.
Grüne, Klima, Politik
Ganz neutral – also ohne Freude oder Mitleid – formuliert: Die „Grünen“ kommen, wie es in der medialen Politiksprache so schön heißt, nicht vom Fleck. Ob die Analyse des öffentlich sehr präsenten Soziologen und Jugendforschers Bernhard Heinzlmaier – als Student in den 80er-Jahren immerhin Vorsitzender des traditionell weit linken VSStÖ – stimmt, wonach die „Grünen“ in Österreich ein Auslaufmodell seien, bleibt dahingestellt. Man sieht ja in Deutschland, dass die dortige Schwesterpartei, wie in Österreich Teil der Regierungskoalition, bei Umfragen stabil besser liegt als die „Ampel-Partner“ SPD und FDP, denen bei der „Sonntagsfrage“ im Vergleich zur letzten Bundestagswahl empfindliche Einbußen prognostiziert werden. Das mag auch daran liegen, dass es den Grünen in weiten Teilen Deutschlands viel besser gelingt, sich von den außerparlamentarischen Klimaprotestgruppen abzugrenzen. Strafen, wie sie Deutschland für die sogenannten Klimakleber – letztlich gut bezahlte Rechtsbrecher ungeachtet manch nachvollziehbarer Anliegen – üblich sind, scheitern hierzulande an den Grünen in der Regierung, insbesondere im Umwelt- und Justizministerium. Es ist ja schon fast kabarettreif, wenn in Österreich grüne Politikerinnen und Politiker in fast jeder Wortmeldung im ersten Satz von der einzigen „Stimme für den Klimaschutz“ im übertragenen Sinne und in der Wahlzelle sprechen. Auch wenn niemand diese „heiße Kartoffel“ in die Hand nehmen will, an dieser Stelle sei eine These formuliert: Die kaum wahrnehmbare Abgrenzung der Grünen zur „Letzten Generation“ wurde zum Gegenwind bei den Wahlen, denn nur eine sehr kleine Minderheit goutiert deren Vorgangsweise.
Alles Proporz, oder?
Von Niederösterreich war bisher noch kaum die Rede. Nicht nur in dieser Zeitdiagnose, auch in der öffentlich sehr heftig geführten Diskussion um das schwarz-blaue Koalitionsabkommen blieb ein Aspekt gänzlich ausgespart; ein sehr wichtiger noch dazu!
Zur Erinnerung: Lange sah alles nach einem Regierungsübereinkommen von ÖVP und SPÖ aus. Dann kamen die „berühmten“ fünf Punkte des SPÖ-Verhandlers Sven Hergovich und dessen vorauseilende Feststellung, dass er sich eher eine Hand abhacken ließe, als nur bei einem dieser Punkte nachzugeben. So weit, so bekannt. Und seither gibt es zumindest zwei „Erzählungen“ im „Land unter der Enns“, eine rote und eine schwarze. In der SPÖ wird man nicht müde, darauf hinzuweisen, dass von einem ursprünglich 28-seitigen Forderungspapier „nur“ mehr – wie von der VP gewünscht – fünf Punkte übriggeblieben wären. (Zwischenfrage: Wird es nicht logischerweise so sein, dass dann natürlich die Inhalte bleiben, die in den Verhandlungen zuvor am meisten umstritten waren. Warum diese Fokussierung ein Entgegenkommen gewesen sein sollte, müsste erst einmal erklärt werden. Aber darum geht es hier nur am Rande.)
Die ÖVP wiederum rechnet seither allen Kritikern an dem Übereinkommen mit der FPÖ mit umfangreichem Zahlenmaterial vor, was die Wünsche der Sozialdemokraten alles gekostet hätten. Auch darüber ließe sich trefflich diskutieren. Letztlich bedeutet Politik immer, Entscheidungen zu treffen, welche Prioritäten beim Rückfluss der Steuergelder in die Bevölkerung gesetzt werden. Das rechtfertigt das Verhalten des SPÖ zwar in keiner Weise, ist aber ein notwendig anzusprechendes politisches Faktum.
Proporzregierung
Was aber völlig ausgeblendet wurde, ist der Aspekt, dass in Niederösterreich mit der Wahl des Landtags auch die Zusammensetzung der Landesregierung entschieden wird. Hier gilt der sogenannte Proporz. Deshalb müssen wir hier auch von einem Regierungsübereinkommen und nicht von einer Koalition sprechen. Konkret bedeutet dies, dass beispielsweise in der Steiermark – hier gibt es diesen Proporz nicht mehr – Opposition auch wirklich Opposition heißt, in Niederösterreich aber die SPÖ – wie schon nach der letzten Landtagswahl von 2018 – in jedem Fall mit zwei Mitgliedern in der Landesregierung samt den dazugehörigen Regierungsbüros und den auch für die politische Arbeit eminent wichtigen Mitarbeitenden bleibt. Hergovich hat letztlich wenig verloren: den kaum attraktiven Posten als Landeshauptfrau-Stellvertreter und ein wenig politischen Einfluss. Aber er hat enorm viel gewonnen. Die SPÖ kann künftig bei jeder Wahl, vor allem auch im Bund mit schwarz-blau drohen. Und da werden viele Medien mit ausreichendem Schaum vor dem Mund mitschreien.
Armut
Die Armut sei in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Diese mehr als fragwürdige These in einem der reichsten Länder der Welt hat sich in den letzten Jahren zu einem erfolgreichen Geschäftsmodell für Diakonie, Caritas und alle Parteien links der Mitte samt ihren medialen Begleitschutztruppen entwickelt. Zugegeben, über Menschen, denen es angeblich schlecht geht, kann man besser berichten und man kann ihnen auch leichter einreden, dass eine böse neoliberale und/oder konservative Politik dafür verantwortlich sei. Höchste Zeit also, die marxistischen Staats-Voodoo-Ökonomie wieder neu zu beleben.
Rundumversorgung
Zu dieser Glaubensgemeinschaft gehört nicht nur der oben angesprochene Sven Hergovich, auch SPÖ-Vorsitzender-Kandidat Andreas Babler oder der Salzburger Kommunist Kay-Michael Dankl sind fest davon überzeugt, mit einem Rundumversorgungsstaat alle Probleme lösen und zugleich die Bürger entmündigen zu können. Dazu ist es aber zuvor notwendig, das Hohelied einer allgegenwärtig um sich greifenden Armut zu singen. Auch die ÖVP hat hier mit ihrem „Koste es, was es wolle“ am Beginn der Corona-Pandemie ein schauriges Vorbild abgegeben.
Wie wird man aber in Österreich statistisch arm? „Armutsgefährdet“ ist man, wenn das Nettohaushaltseinkommen unter 60 Prozent des sogenannten Medians liegt. Der Median darf nicht mit dem Durchschnitt verwechselt werden, sondern beschreibt in unserem Fall genau den Mittelwert zwischen dem höchsten und niedrigsten verfügbaren Nettohaushaltseinkommen. Einmal ganz ungeachtet der Willkür, hier die Grenze bei 60 Prozent einzuziehen, sagt dieser Wert bestenfalls etwas über Gleichheiten und Ungleichheiten in der Gesellschaft aus, nichts aber über Armut selbst.
Wenn es 2023 nun allgemein prozentuell kräftige Lohnerhöhungen gegeben hat, ist es nicht nur logisch, dass der Median steigt, es ist auch klar nachvollziehbar, dass die geringer Entlohnten zugleich nun zwar mehr Geld zur Verfügung haben, aber statistisch schneller armutsgefährdet werden. Ein Gegenbeispiel: Als Irland nach der internationalen Finanzkrise 2008 tatsächliche enorme Wohlstandsverluste erleiden musste, ist die Zahl der Armutsgefährdeten auf der grünen Insel plötzlich signifikant zurückgegangen. Noch Fragen?
Fotos: Foto Fischer, Caritas