Wie hast du’s mit der Religion?

Spätestens seit dem Terrorschlag der Hamas gegen Israel vor anderthalb Jahren haben sich das Auftreten, aber auch die Wahrnehmung der Jüdinnen und Juden in Österreich verändert.

von NEUES LAND

Der Titel dieser Zeitdiagnose wurde einem der großen Werke der Weltliteratur entnommen, Goethes „Faust“: Gretchen, ein sehr junges, unschuldiges Mädchen, angezogen und zugleich von ihm abgestoßen, stellt die Frage dem viel älteren Titelhelden, der wenig zurückhaltend sie zu erobern versucht.

Als „Gretchenfrage“ ist sie sprichwörtlich in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen und meint damit jene Fragen, deren Beantwortung vieles, wenn nicht alles verändert. Die religiöse Dimension ist hier bestimmt kein Zufall, denn Glaube und Religion berühren selbst in unserer heutigen, oft als säkular und kirchenfern bezeichneten Gegenwart den Wesenskern jedes Menschen. Paul Tillich, ein bedeutender evangelischer Theologe des 20. Jahrhunderts, hat sinngemäß davon gesprochen, dass es im Glauben zwar nicht um „alles“, aber um „das Ganze“ geht. Religionen, so Tillichs Überzeugung, sind kein Rezeptbuch für jeden Lebensbereich, aber wer aus dem Glauben lebt, hat wohl einen fundamental anderen Zugang zu seiner Lebenswelt.

„Nun sag, wie hast du‘s mit der Religion? Du bist ein herzlich guter Mann, allein ich glaub, du hältst nicht viel davon,“ lautet bei Goethe das vollständige Zitat, das die religiöse Frage mit der moralischen – „herzensgut“ – eng verknüpft. Wir, wenn wir dieses Stück lesen oder auf der Bühne sehen, wissen im Gegensatz zum Gretchen längst, dass dieser Faust einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hat und dass seine Absichten, sagen wir es vorsichtig, nicht gerade die ehrenwertesten sind. Und wir sollten weiterlesen. Faust windet sich in seiner Antwort: Er wolle niemanden seinen Glauben nehmen, er ehre zwar die Sakramente, aber wer könne schon sagen „Ich glaub an Gott“.

Diese Argumentation ist doppelt aufschlussreich: Sie versucht zum einen eine Vertrauens- und Bekenntnisfrage zu rationalisieren, respektiert aber zum anderen den Glauben Gretchens als ein nicht in Frage zu stellendes Tabu. Das junge und eben nur vermeintlich naive Mädchen durchschaut sein Gegenüber mit bemerkenswerter Klarheit: „Denn du hast kein Christentum.“

Glaube und Tabu

Das Wort „Tabu“ stammt ursprünglich aus der Südsee und meint etwas „Heiliges“ und deshalb „Unberührbares“. Sowohl in der modernen Psychologie als auch in der Religionswissenschaft ist „tabu“ ein zentraler Begriff. Grosso modo werden damit vor allem jene Bereiche des Glaubens- und Seelenlebens bezeichnet, über die man bewusst nicht spricht, die man mit Absicht ausspart. Religionskritik und Psychoanalyse sind daher vor allem auch daran interessiert, solche „Tabus“ aufzubrechen. Und es zeigt sich – insbesondere auf der religiösen Ebene – die allgemeine Akzeptanz von Bekenntnissen, wie sehr deren Tabus respektiert oder eben auch nicht respektiert werden.

Abrahams Kinder

Judentum, Christentum und Islam, die drei monotheistischen Religionen, haben mit Abraham einen gemeinsamen „Stammvater“ und sind auch darüber hinaus in vielfacher, einander bedingender Weise miteinander verbunden. Ein Umstand, der übrigens auch meist tabuisiert wird, weil es den Glaubensgemeinschaften sichtlich mehr um das Konkurrierende und weniger um das Gemeinsame geht. Und es vergeht ja auch kaum eine Woche in Österreich, in der nicht eine der drei Religionen durchaus kampfbereit die Schlagzeilen unserer Medien mitbestimmt. Antisemitismus, Islamisierung und Entchristlichung sind allgegenwärtige Begriffe des politischen und gesellschaftlichen Diskurses.

Was verstört, ist der zunehmend aggressiver werdende Ton. Wenn dem totkranken deutschen Kriegsheimkehrer und Nachkriegsschriftsteller Wolfgang Borchert von jüdischer Seite Antisemitismus vorgeworfen wird, da er in seinen wenigen Texten nur das Schicksal der Wehrmachtsoldaten, aber nicht das der verfolgten Juden thematisierte, so ist das nicht nur ein übler Versuch von Zensur, sondern eine völlig abseitige Argumentation. Über etwas nicht zu schreiben, diesen Vorwurf kann man immer und überall und jedem Text gegenüber formulieren. Davon abgesehen ist es nicht die Aufgabe von Literatur, Geschichtsschreibung zu betreiben.

Diese weitgehend kaum wahrgenommene Auseinandersetzung jüdischer Seite mit Borchert mag ja noch ein vernachlässigbares Randthema sein. Eine weitaus breitere Aufmerksamkeit hat in den letzten Wochen allerdings zumindest in Deutschland die auf unterschiedlichsten Ebenen geführte Diskussion über Johann Sebastian Bachs „Johannespassion“ gefunden. So heißt es in der Online-Ausgabe der „Jüdische[n] Allgemeine[n]“ vom 21. April 2025 über die Vertonung der beiden Evangelien-Texte bei Bach: „Die gegen Juden gerichteten Texte des Neuen Testaments seien bei Matthäus Ausdruck der Konkurrenz der jungen christlichen gegen die alte jüdische Religion, bei Johannes schlügen sie in Verteufelung um.“ Dazu passt auch ein im Umlauf befindliches Thesenpapier aus der Grazer jüdischen Gemeinde, welches das Neue Testament als „Magna Charta“ des Antisemitismus bezeichnet.

Bleiben wir sachlich: Natürlich war die Frage nach ihrem Verhältnis zur jüdischen Religion eine Kern- und Überlebensfrage der jungen Christengemeinde. Man geriet sogar darüber in Streit, ob auch Nicht-Juden als Christen getauft werden können. Ob Jesus wirklich eine neue Religion gründen oder doch bloß eine tiefgreifende Reform des Judentums als Ziel vor Augen hatte – möglicherweise sogar weder das eine noch das andere –, ist ohnehin kaum zu beantworten. Es bleibt aber unwiderrufbar das Abendmahlsgeschehen mit der Einsetzung des „Neuen Bundes“ für „alle“ und nicht nur für ein „ausgewähltes Volk“.

Dass es vor diesem Hintergrund zu aus heutiger Sicht schwer akzeptierbaren antijüdischen Aussagen im Neuen Testament gekommen ist, liegt – bedauerlicher Weise – in der Natur der Sache. Doch wem dies als grundsätzlich inakzeptabel erscheint, der muss jede der abrahamitischen Religion fundamental ablehnen. Auch im Koran werden Juden, die nicht bereit sind, Allah zu folgen, als „Affen und Schweine“ erniedrigt und das jüdische (von Christen sogenannte) Alte Testament ist ohnehin eines der gewalttätigsten Bücher der Menschheitsgeschichte: Im Buch Deuteronomium befiehlt Gott Mord, Plünderung und die Vernichtung ganzer Städte. Im Psalm 137 wird das Zerschmettern der unschuldigen Kindern von Feinden an Felsen gepriesen und die „letzte Plage“, die Gott den Ägyptern geschickt hat, um sein Volk ziehen zu lassen, ist der Tod „aller Erstgeborenen“ im Buch Exodus.

Um hier nicht falsch verstanden zu werden, keine dieser Bibelstellen rechtfertigt den späteren kirchlichen, schon gar nicht europäisch politischen Antisemitismus. Doch im Vergleich zum Alten Testament ist das Neue Testament tendenziell höchst pazifistisch. Wer das Christentum unreflektiert mit der europäischen Kirchen- und Herrschaftsgeschichte gleichsetzt, wer Bachs Evangelien-Vertonungen historisch seines Kontextes beraubt, sollte zumindest einen Gedanken aus der Bergpredigt zulassen: „Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht?“

Worüber darf man sprechen?

Wie ist diese Entwicklung einzuordnen? Vorweg zwei Klarstellungen: Es ist erstens gut, wenn sich die Vertreterinnen und Vertreter der jüdischen Glaubensgemeinschaft wieder aktiver am öffentlichen Diskurs beteiligen. Und zweitens gilt auch 80 Jahre nach dem Holocaust, dass dieses Verbrechen gegen die Menschlichkeit historisch einzigartig bleibt wie auch die Notwendigkeit, es nie zu vergessen.

Doch der Verweis auf den Holocaust dient zunehmend auch als Tabuisierung und Immunisierung gegenüber jüdischen Positionen. Wenn aktuell jüdische Studierende Hand in Hand mit Vertretern weit linksstehender Kommilitonen gegen den Präsidenten des Nationalrats bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit protestieren, ist das inhaltlich zwar mit viel Wohlwollen nachvollziehbar, zugleich aber auch eine permanente Missachtung einer zentralen Institution unserer Republik. Das alles ist ja umso abwegiger, dass dies in „Partnerschaft“ mit jenen Gruppen geschieht, die sich im Konflikt um Gaza nach dem Terroranschlag der Hamas vom 7. Oktober 2023 demonstrativ auf die Seite der Hamas gestellt haben. Und ja, man muss es auch sagen dürfen. Die Vergeltung Israels an der palästinensischen Zivilbevölkerung ist in ihrem Umfang völkerrechtlich und moralisch völlig inakzeptabel. Wenn wir 80 Jahre nach dem Holocaust gerade dessentwegen schweigen, verraten wir insbesondere auch die Millionen jüdischen Opfer der braunen Mörderbanden!


Hand Putzet

Erschienen im Rahmen der Serie „ZEITDIAGNOSEN” von Hans Putzer.

In der Serie „Zeitdiagnosen“ schreibt Hans Putzer monatlich einen Beitrag über gesellschaftliche und politische Themen. Hans Putzer war von 1999 bis 2008 Chefredakteur von NEUES LAND, von 2010 bis 2018 Direktor des Bildungshauses Graz-Mariatrost und zuletzt Mitarbeiter im Grazer Rathaus. Er wohnt mit seiner Familie in Hausmannstätten und verfasst seit vielen Jahren Beiträge für den Steirischen Bauernkalender.

Zum Thema passend

Einen Kommentar abgeben