Letztlich ist und bleibt alles, was hier geschehen ist, unbegreifbar. Viele Reaktionen in den ersten Tagen danach sind dieser Unbegreifbarkeit geschuldet. Man sollte daher auch nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen. Das gilt insbesondere für die unmittelbar Betroffenen. Aber auch die Pressekonferenz mit den politischen Spitzen von Bund, Land und Stadt sowie der Polizei fünf Stunden nach dem Amoklauf hat gezeigt, dass selbst diese naturgemäß besonders krisenresistenten Persönlichkeiten mit ihrer eigenen Betroffenheit zu kämpfen hatten.
Aber es wäre nicht Österreich, hätten uns nicht schon am nächsten Tag Wünsche nach mehr Geld und nach neuen Verboten medial beschäftigt. Mit Verweis auf eine OECD-Studie forderten der Direktor eines anderen Grazer Oberstufenrealgymnasiums bessere Betreuungsangebote und der Geschäftsführer der NGO „ARGE Jugend“ umfangreichere Präventionsangebote. Im Klartext: Beide wollen mehr Geld für ihre eigene Arbeit.
Kein Wort darüber, dass wir in Österreich seit Jahren ziemlich folgenlos darüber diskutieren, dass in unseren Schulen ein im internationalen Vergleich verhältnismäßig hoher Mitteleinsatz zu bestenfalls mittelmäßigen Ergebnissen führt. Und es wäre auch höchste Zeit in Österreich, wie es in Deutschland bereits geschieht, über die Effizienz vieler NGOs nachzudenken, die sich beim zweiten genaueren Hinsehen sehr oft als von Steuergeldern gut alimentierte Hilfstruppen politischer, meist linker Parteien herausstellen.
Aber bitte nicht zu rasch und daher falsch verstehen: Nicht die beiden hier Angesprochenen sind das Problem. Sie sind letztlich vor allem gute Lobbyisten ihrer eigenen Interessen und das ist niemandem vorzuwerfen. Es ist vor allem diese eine Hälfte der typisch österreichischen politischen Krisenbewältigung von Herausforderungen aller Art: Mehr Geld muss her! Und die andere Hälfte: Verbote!
Die Grazer Bürgermeisterin – ungeachtet ihrer persönlichen Einstellung – als bekennende Kommunistin immerhin in einer langen Tradition, Konflikten und Andersdenkenden theoretisch pazifistisch, aber praktisch stets auch mit Gewalt zu begegnen, sprach sich für ein generelles Waffenverbot für „Zivilisten“ aus. Umso verräterischer ist daher ihr martialischer Sprachgebrauch, wenn sie davon redet, dass die Schule wieder „zurückerobert werden muss“. Und weil wir halt gerade dabei sind, werden in der Diskussion auch neue Verbote für die Nutzung der sogenannten „sozialen Medien“ bis zu einem gewissen Alter überlegt.
Betreutes Leben?
Man mag das ja alles – als Einzelfall betrachtet – nachvollziehen und auch gutheißen, aber Politik und gesellschaftliches Zusammenleben sind nicht die Summe einer naturgemäß unübersichtlich hohen Zahl von Einzelfällen. Wir sollten uns schon, unaufgeregt, aber engagiert die Frage stellen, was es mit unserer Gesellschaft macht, wenn nur mehr Bevormundung und Verbote einerseits und ständig neues und zusätzliches Geld andererseits die bevorzugten Krisenstrategien sind. Wobei zumindest ansatzweise die aktuelle Bundesregierung, wenn auch mehr der Not als einer geänderten Überzeugung geschuldet, zu erkennen scheint, dass mehr Geld allein eben keine Probleme löst.
Da ist die Steiermärkische Landesregierung schon bemerkenswert weiter, die zumindest bei den NGOs im Sozial-, Integrations- und Umerziehungsbereich nun den Sparstift spürbar ansetzt. Es bleibt ohnehin die Befürchtung, dass das künftig nun nicht mehr mit vollen Händen hinausgeworfene Steuergeld wieder nur zu neuen Verboten führen wird. Das ist keine pessimistische Spekulation, sondern bereits Realität. Finanzminister Marterbauer hat erst kürzlich betont, dass Klimaschutzmaßnahmen, die nicht mehr gefördert werden können, einfach durch restriktivere Verbote kompensiert werden müssen.
Fast schon infantil mutet da die Diskussion an, nun auch die „Dreierschützengasse“ in Graz umzubenennen. Als Infanterie-Landwehrregiment in der Monarchie haben die „Dreierschützen“ ganz wesentlich zur Sicherheit der Steirer beigetragen, aber wir kennen das von der linken Grazer Stadtregierung ohnehin: Alles, was an eine andere als die eigene Geschichte erinnert, sollte möglichst unsichtbar gemacht werden. Auch kleine Kinder glauben, wenn sie sich die Hände vor die Augen halten, dass sie nicht mehr gesehen werden.
Frei und sicher
Der Umgang mit dem Amoklauf in Graz berührt unmittelbar eine der zentralen Fragestellungen der Staatsrechtslehre, der Politologie und noch grundsätzlicher der Philosophie. Wie sind die zutiefst menschlichen Bedürfnisse nach Freiheit und Sicherheit in Einklang zu bringen? Man kann sich die Beantwortung hier sehr einfach machen. So spricht etwa die „Europäische Grundrechtecharta“ im Artikel 6 vom Recht jedes Menschen auf Freiheit und Sicherheit, ohne die einer solchen Formulierung innenwohnenden Fallstricke zu benennen.
Benjamin Franklin, einem der Gründungsväter der Vereinigten Staaten von Amerika, wird ein in diesem Zusammenhang sehr bekanntes Zitat zugeschrieben: „Wer bereit ist, Freiheit zu opfern, um Sicherheit zu gewinnen, verdient weder das eine noch das andere und wird am Ende beides verlieren.“ Franklin hatte eine sehr hohe Meinung von der Verantwortung des Individuums gegenüber der Gesellschaft. Ein Staat, der sich in nicht notwendigerweise in das Leben seiner Menschen einmischt, nimmt diesen weitaus mehr Freiheitsrechte, als er dafür Sicherheitsgarantien leisten kann.
Max Weber wiederum hat in seinem zurecht berühmt gewordenen Vortrag „Politik als Beruf“ (1919) auf den „abgrundtiefen Gegensatz“ zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik hingewiesen. Erstere gehe von idealistischen Vorstellungen aus, letztere, und dieser gehört eindeutig Webers Sympathie, berücksichtige die konkret zu erwartenden Folgen.
Die Relevanz von Franklin und Weber für unseren Umgang mit dem Amoklauf ist offensichtlich: Natürlich ist es idealistisch gedacht, zu glauben, dass noch mehr Geld für Präventivmaßnahmen oder ein generelles Waffenverbot solche schrecklichen Ereignisse künftig verhindern werden. Doch es fehlt für eine solche Annahme jegliche Evidenz.
Zu den erschütterndsten Phänomenen unserer Zeit gehört unbestreitbar die hohe Zahl von Femiziden. Nach jedem Mord an einer Frau rufen die hier einschlägig arbeitenden Institutionen, die ja durchwegs engagiert tätig sind, nach mehr Geld und bekommen es dann meist auch. Doch die Zahlen wurden in den letzten Jahren bedauerlicherweise nicht besser. Statistisch ist ebenfalls unbestreitbar, dass die Mehrheit der mit Waffen begangenen Straftaten mit illegal besessenen verübt werden. Auch wenn man einem Waffenbesitz als höchst fragwürdigen Ausdruck von persönlicher Freiheit misstraut, ginge bei einem Verbot wieder ein Stück Gestaltungsraum von den Bürgern auf den Staat über.
Der moderne Staat, wie wir ihn seit der Aufklärung kennen und in seiner demokratischen Ausprägung schätzen, hat seinen Ursprung unter anderem im Verständnis, Menschen vor der Willkür anderer Menschen zu schützen. Thomas Hobbes hat „vom Menschen als des Menschen Wolf“ gesprochen. Der Rechtsstaat allerdings hat seinen Ursprung in der Notwendigkeit des Schutzes der Menschen vor der Machtfülle des Staates. Um jedoch die Freiheit des Einzelnen „unverbrüchlich“ zu sichern, so ein Grundsatz der Staatsrechtslehre des 19. Jahrhunderts, in dem erstmals bürgerliche Rechte in einem signifikanten Ausmaß kodifiziert worden sind, solle der Staat in seiner Rechtsphäre nur die „notwendigste Umzäunung“ sicherstellen.
In einer Zeit wachsender Unsicherheiten und multipler Krisen, in der zwischen „Unschuldsvermutung“ und medialer Vorverurteilung kaum mehr ein Blatt Papier passt, in der während der Coronapandemie Grundrechte auf Freiheit, Bildung oder Versammlung in unverhältnismäßiger Weise beeinträchtigt worden sind und der Staat als „Sozialstaat“ oder aus ökologischen Motiven ungeniert und wiederum unangemessen in die Eigentumsrechte seiner Bürger eingriff, dürfen wir uns nicht wundern, wenn das Pendel weg von der Idee der Freiheit hin zur anmaßenden Sicherheit ausschlägt.
Theodizee
Als unser voraufgeklärtes Zusammenleben noch als christlich grundierte Heilsgeschichte verstanden worden ist, haben die viele Menschen die sogenannte Theodizee-Frage gestellt: Wie kann ein liebender Gott so viel unerklärbares Leid auf der Welt zulassen? Die Antwort der Theologen und Philosophen war meist eine doppelte. Dieses Leid ist zum einen der Unvollkommenheit der Welt, aber zum anderen auch der Freiheit des Menschen zum Bösen geschuldet und beides gehöre untrennbar zu unserer Welt. Das mag im Hinblick auf den Amoklauf in Graz kein Trost, nicht einmal eine rasche Antwort sein. Wir sollten uns aber daran erinnern, wenn wir glauben, alles reglementieren und/oder kaufen zu können.
Erschienen im Rahmen der Serie „ZEITDIAGNOSEN” von Hans Putzer.
In der Serie „Zeitdiagnosen“ schreibt Hans Putzer monatlich einen Beitrag über gesellschaftliche und politische Themen. Hans Putzer war von 1999 bis 2008 Chefredakteur von NEUES LAND, von 2010 bis 2018 Direktor des Bildungshauses Graz-Mariatrost und zuletzt Mitarbeiter im Grazer Rathaus. Er wohnt mit seiner Familie in Hausmannstätten und verfasst seit vielen Jahren Beiträge für den Steirischen Bauernkalender.